Als Chronik lesen …

Chronistik ist ein Blog des DFG-Projektes Literarische Chronistik. Elemente einer Schreibweise der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er widmet sich den unterschiedlichen literarischen, medialen, popkulturellen, trivialen und alltäglichen Rückgriffen auf Chronistik. Der Blog wird fortlaufend Blogbeiträge veröffentlichen, die eine Sammlung der verschiedenen Einsatz- und Gebrauchsformen zusammentragen. Er dient keinem gattungsgeschichtlichen Interesse, sondern möchte die Vielfalt dokumentieren. Literarische Chronistiken spielen häufig mit der Spannung zwischen bloßer Dokumentation und Ausdeutung. Analog versteht sich der Blog zunächst als eine Präsentation eines vielfältigen Phänomens. In kurzen Beiträgen werden verschiedene Texte vorgestellt und anhand markanter Beispiele aufgezeigt, wo chronistische Schreibelemente am Werk sind.

Aufzählen, nicht Erzählen

In Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit wird Geschichte oft als Chronik geschrieben: als Verzeichnis von Ereignissen an bestimmten Daten, als Abfolge von Herrschern. Mit der Entwicklung der modernen Geschichtsschreibung wird diese Form als defizitär bezeichnet, als bloßes Material für eine eigentliche Geschichte, die die Ereignisse im Zusammenhang erzählt.

Chronik des Eusebius
Chroniken in der Literatur

Viele Texte der Gegenwartsliteratur bedienen sich fragmentarischer, unterbrochener, oft sequentiell organisierter Schreibweisen, um die Kontingenz und Zufälligkeit der Gegenwart darzustellen. In der Literaturkritik gilt das Attribut ‚chronistisch‘ häufig als höchster Ausweis einer Literatur, der man bescheinigt, in besonderem Maße am ‚Puls der Zeit‘ entstanden zu sein.

 

Schon seit der Krise des Historismus gibt es in der deutschsprachigen Literatur eine Reihe von Texten, die die Zeitgeschichte durch Rückgriffe auf die vormoderne Form der Chronik beschreiben: eine Literarische Chronistik der Moderne.

... notiere ich ...

Stadtchronik, Vereinschronik, Chronik der Sperlingsgasse – topische Texte im eigentlichen Sinne betrachten sie die Welt aus einem Ausschnitt.

Eine Chronik hat keinen Autor, der sie beherrscht, übersieht, Ordnungen stiftet – keinen Schöpfer, der über allem schwebt.

Für den mittelalterlichen Chronisten ist das Datum nichts zufälliges: A.D., das Jahr des Herrn, ist immer schon Teil eines heilsgeschichtlichen Zusammenhanges, einer großen Geschichte, von der jedes einzelne Ereignis in dieser Welt Zeugnis ablegt.

 

Hier und heute ...

In der Moderne wird Chronik zu einem Reservoir von Schreibmöglichkeiten: verfasst im Augenblick, nicht im Nachhinein in Zusammenhang gebracht, sondern roh, offen, mit dem Rücken zu ihrer Zukunft, von der sie noch nichts wissen, wandern die Ereignisse in die Chronik ein.

... den Weltlauf

Chronist:innen stehen neben ihrem Text, hinterlassen Spuren des Schreibens, zeigen auf das, was gerade durch sie hindurch verzeichnet wurde.

Was die modernen Chronist:innen berichten, ist immer zufällig, aufgelesen, zugeflogen – aber es will auch immer etwas sagen, wird ausgelegt und steht für etwas anderes.

Hier und heute ...

Schon seit der Krise des Historismus gibt es in der deutschsprachigen Literatur eine Reihe von Texten, die die Zeitgeschichte durch Rückgriffe auf die vormoderne Form der Chronik beschreiben: eine <strong>Literarische Chronistik der Moderne</strong>.

Stadtchronik, Vereinschronik, Chronik der Sperlingsgasse – topische Texte im eigentlichen Sinne betrachten sie die Welt aus einem Ausschnitt.

... notiere ich ...

In der Moderne wird Chronik zu einem Reservoir von Schreibmöglichkeiten: verfasst im Augenblick, nicht im Nachhinein in Zusammenhang gebracht, sondern roh, offen, mit dem Rücken zu ihrer Zukunft, von der sie noch nichts wissen, wandern die Ereignisse in die Chronik ein.

Eine Chronik hat keinen Autor, der sie beherrscht, übersieht, Ordnungen stiftet – keinen Schöpfer, der über allem schwebt.

... den Weltlauf

Chronist:innen stehen neben ihrem Text, hinterlassen Spuren des Schreibens, zeigen auf das, was gerade durch sie hindurch verzeichnet wurde.

Was die modernen Chronist:innen berichten, ist immer zufällig, aufgelesen, zugeflogen – aber es will auch immer etwas sagen, wird ausgelegt und steht für etwas anderes.

Für den Mittelalterlichen Chronisten ist das Datum nichts zufälliges: A.D., das Jahr des Herrn ist immer schon Teil eines heilsgeschichtlichen Zusammenhanges, einer großen Geschichte, von der jedes einzelne Ereignis in dieser Welt Zeugnis ablegt.

Das reduzierte Erzählen der Chronik, das Ereignisse mehr verzeichnet als ihre Zusammenhänge entwickelt, lässt sich also zugleich als Verzicht und als Gewinn von Bedeutsamkeit beschreiben.

Nicht Gattung, Schreibweise

Chronistische Elemente werden von vielen und sehr verschiedenen Texten benutzt: von der Chronik im eigentlichen Sinne, also der erwähnten vormodernen Geschichtsschreibung, über Lokalchroniken, die es bis in die Gegenwart gibt, historischen Fiktionen, die Chronik im Titel führen, Mitschriften der Zeitgeschichte, bis hin zu Blogtexten.

Während sich das Forschungsprojekt Literarische Chronistik der Moderne auf die Amalgamierung solcher chronistischer Elemente in deutschsprachigen Texten des 20. Jahrhunderts konzentriert, präsentiert diese Website chronistische Texte aus allen Epochen und widmet sich auch unterschiedlichen medialen, popkulturellen, trivialen und alltäglichen Rückgriffen auf Chronistik.

Vorgestellt wird hier keine Gattung mit festen Grenzen und Kriterien der Auswahl – eher ein Experiment: was passiert, wenn man Texte als chronistisch liest?