Chroniken des Augenblicks

Migration, Fremdheit und die Suche nach einer neuen Heimat waren die Grundthemen der Schriftstellerin und bildenden Künstlerin Erica Pedretti. 1930 in Šternberk (Nordmähren) geboren, emigrierte sie mit 15 Jahren in die Schweiz. Besonders ab 1970 verarbeitete sie literarisch, in Zeichnungen, Objekten und Installationen ihre Flucht. Ab 2000 erprobte sie zudem neue künstlerische Darstellungsformen in ihren „Überschreibungs-Zyklen“: Mit verschiedenen Materialen überklebte sie Zeitungsartikel und Fotos, überschrieb sie handschriftlich oder übermalte sie. Individuelles Erleben trifft auf das tägliche Weltgeschehen.

Chroniken des Augenblicks

von Regula Bigler

Das Journal Heute. Ein Tagebuch von Erica Pedretti, das 2001 beim Suhrkamp Verlag erscheint, bietet schon beim ersten Durchblättern einige visuelle Entdeckungen: unter weisser Deckfarbe schimmern Zeitungsartikel, markante Titel, Fotos bekannter Politiker:innen oder verschwommene Bilder alltäglicher Ereignisse durch. Über der Deckfarbe liegen handschriftliche Blöcke, stellenweise horizontal, dann wieder vertikal oder diagonal. Im hinteren Teil des schmalen Bandes finden sich, nun chronologisch geordnet, in Druckschrift und mit Datum versehen, die Transkriptionen der handschriftlichen Einheiten. Bericht? Tagebuch? Collage? Palimpsest? Gesamtkunstwerk? Ein näherer Blick lohnt sich.

Sprunghafte Erinnerungen

Chronistik wie auch diaristische Textsorten scheinen auf den ersten Blick zeitliche Abfolgen zu implizieren. Wir stellen Ereignisse von historischer Relevanz, aber auch individuell bedeutsame Geschichten meist sequentiell dar und bringen sie in eine Reihenfolge, um kausale Bedeutungen zu generieren: Was geschah zuerst? Was geschah danach? Warum bewirkt ein Geschehnis ein nächstes und was lässt sich daraus für die Gegenwart oder die Zukunft ableiten?
Erica Pedretti entzieht sich eigensinnig solchen Selbstverständlichkeiten. Ihr Werk weist Charakteristiken auf, die die Linearität von Narrativen subvertiert. Besonders in ihrem Spätwerk fokussiert sie zudem auf den einzelnen Moment, den sie im Text-Bild-Zusammenspiel anschaulich macht, ohne zeitliche Abläufe zu suggerieren.
In ihren literarischen Werken, die zwischen 1970 und 2000 entstehen, beschreibt die Autorin ihre Kindheit in Mähren, erste traumatische Erfahrungen von Krieg und Flucht, sowie die Rückkehr einer jungen Frau, die erneut mit frühen Kindheitserfahrungen konfrontiert wird. Das Unsagbare manifestiert sich dabei oftmals in einem stockenden Erzählfluss:

Fahnen wehen über den hohen Bretterwänden im Wind, rot weiss blau, rot weiss schwarz, rot, rot weiss blau [...] Rufe, Klatschen, Platschen, Lachen: der Lärm stossweise vom Wind über die Wiesen herübergebracht, hie und da, aber heuer nicht. i

Still steh ganz still steh still hinter deinem Baum dort geht einer mit einem Gewehr geht auf und ab lauf jetzt.ii

Dann bin ich hingefahren, die erste Reise ist auch schon wieder ein paar Jahre her, und jetzt streiten sich meine alten Erinnerungen mit den neuen.

Und diese Erinnerungen stimmen kaum mehr überein mit denen einer zweiten Reise. iii

Wiederholungen und Ellipsen, sowie hochartifizielle Stilfiguren wie Alliterationen oder Anaphern kennzeichnen die Erinnerungen der Figuren Pedrettis. Der Schlüsselroman engste Heimat, in dem die Hauptfigur nach über drei Jahrzehnten erstmals an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt und dort feststellen muss, dass ihr diese «engste» Heimat fremd geworden ist, erinnert sich bloss bruchstückhaft an Erlebnisse und Geschehnisse in der Vergangenheit. Pedretti bettet Verletzungen und die Erinnerungen an den Krieg als autobiographisches Material in eine Fiktion ein, die die erlebten Traumata sprachlich umkreisen, nie aber vollständig nachvollziehbar machen. Damit ist sie der Realität vielleicht näher, als sie es mit jedem grammatikalisch vollständigen Satz und jeder linear dargelegten Erinnerung wäre. Fiktive und faktische Darstellungen, aber auch die Zeitwahrnehmungen überblenden sich. Durch Perspektivenwechsel, Selbstbefragungen, Zweifel oder Befehle an das erinnerte Ich treten das erzählte und das erzählende Ich wiederholt in einen Dialog miteinander und entfesseln damit nicht nur Erinnerung, sondern wahrscheinlich auch einen Heilungsprozess.

In ihren literarischen wie auch bildkünstlerischen Werken, die vor 2000 entstehen, stellt Pedretti dar, was sie in ihrem Spätwerk nach 2000 auch materiell sichtbar macht: Historie, die Erfahrungen einer ganzen Generation und ihre individuelle Lebensgeschichte sind aufs Engste miteinander verzahnt. Die unterschiedlichen medialen Konstellationen erlauben Perspektivwechsel durch Experimente im jeweiligen Medium.
In den ab dem Jahre 2000 entstehenden Zyklen integriert Pedretti einen weiteren Diskurs bzw. ein neues Medium in ihre Inszenierungen und kippt so die klaren Grenzziehungen zwischen Bild, Objekt und Literatur: indem sie Zeitungsausschnitte zusammenklebt, mit weisser Farbe überdeckt und handschriftlich überschreibt, lässt sie das Weltgeschehen auch konkret materiell mit ihren eigenen Überlegungen und Erlebnissen interagieren.
Das Journal Heute. Ein Tagebuch markiert innerhalb dieser Entwicklung einen Kippmoment.
Die grossformatigen Originalblätter, die heute im Literaturarchiv Bern aufbewahrt und punktuell zu Ausstellungen ausgeliehen werden, entstehen als Auftragsarbeit des Basler Literaturhauses. Die Künstlerin klebt Zeitungsauschnitte auf Baumwoll- und Leinenuntergrund, überdeckt die Artikel und Fotos mit weisser Farbe teilweise und überschreibt sie handschriftlich in variierenden Konstellationen.

Als Buchausgabe erscheinen die Blätter reproduziert und verkleinert beim Suhrkamp Verlag. iv Die transkribierten handschriftlichen Einheiten finden sich im zweiten Teil des Buches in Druckschrift und ermöglichen einen Zugang zu Pedrettis Texten, die bei der Betrachtung der Originalblätter aufgrund der schwierigen Lesbarkeit stellenweise verborgen bleiben. Somit fordert die kleinformatige Buchausgabe zum Blättern auf, appelliert an visuelle wie auch haptische Sinne der Leserschaft und wird als Gesamtkunstwerk erfahrbar, das traditionelle Zeitdarstellungen wie auch traditionelle Leseprozesse unterläuft.

Fragmente des individuellen und des weltgeschichtlichen Alltags

Pedretti reflektiert in diesem Journal das Zusammenspiel zwischen persönlicher Lebens- und Weltgeschichte, sowie die Rolle der Tagespresse, welche ungefiltert auf die Individuen Einfluss nimmt, selbst wenn sie – metaphorisch oder konkret übertüncht und übermalt – scheinbar verborgen bleibt. Der Augenblick, das „Heute“ wird somit zweifach aufgezeichnet.
Die einzelnen Einträge sind assoziativ strukturiert und leben von Wiederholungen und dem rhythmisierten Wechsel verschiedener literarischer Textsorten (innere Monologe oder Dialoge, autoreflexive Fragen, Kommentare, Berichte). Es gibt mehrere Szenen- oder Textsortenwechsel im gleichen Absatz, wie zum Beispiel im folgenden Eintrag vom 2. Februar 2001:

Die Grippewelle dauert weiter an und hat zu einem starken Rückgang der Blutspenden geführt [...]. Die Rebellen, die, welche die Russen Rebellen nennen, ziehen sich offenbar aus Grosny zurück. [...] Die Schweizer Wirtschaft läuft auf Volllast (Orthographie der BaZ). Was heisst Volllast? Sie wächst kräftiger als bisher angenommen. [...] Und 439 Strahlenopfer. Und keine Rettung mehr nach dem Airbus-Absturz vor der Elfenbeinküste. Alles Nachrichten von heute. Im Sternbild des Orion leuchtet jetzt der grosse Orionnebel. Eltern sind und bleiben Eltern: Gratwanderung der Erziehung. Grosseltern sind und bleiben Grosseltern. Wieweit wurde ich von meinen Grosseltern erzogen, wieweit von meinen Eltern?v

Pedrettis Einträge entsprechen nicht, wie eine erste Lektüre annehmen lassen könnte, den Inhalten der untergründig reproduzierten Beiträgen aus der Basler Zeitung. Vielmehr schimmern unter der Deckfarbe Stellenanzeigen und andere Inserate durch. Ein Blick auf die vollständige Zeitungsseite vom 2. Februar 2001 verdeutlicht, dass die Künstlerin weitere Meldungen übertüncht: weitere Anzeigen, Lizenzforderungen, ein Bericht mit dem Titel Interneteinkäufe und Weiterbildungsmöglichkeiten im Netz. vi Dieses Vorgehen gilt für das gesamte Werk: Die handschriftlichen Notizen nehmen nur vereinzelt auf die darunterliegenden Zeitungsartikel Bezug. Die Politik Russlands gegenüber Tschetschenien wird in einem späteren BaZ-Artikel verhandelt. Dadurch entsteht ein Geflecht von Sinnzusammenhängen, das sich aus losen Assoziationen zwischen persönlichem Erleben, Erinnern und dem Weltgeschehen zusammensetzt.

Das an ein mittelalterliches Palimpsest mahnende Aufschreibeverfahren zeichnet zudem den Erinnerungsprozess nach, in dem gleichsam mehrere Schichten einander überlagern, Erlebnisse ausgeblendet oder mit neuen Erfahrungen überdeckt werden. Die Erzählungen von Lebensgeschichten wie auch die Dokumentation von Zeitgeschichte – dies legt der Band eindrücklich dar – sind an die menschliche Vergesslichkeit und die Kurzlebigkeit aktueller Meldungen der Presse gebunden.

Spiel mit den Medien, Spiel mit Fremdtexten, Spiel mit den Lesenden

In Blatt 6 des Journals wird der kurze Satz so leben wir alle Tage fragmentiert und in unterschiedlichen Ausrichtungen auf der Seite arrangiert. vii Kulturgeschichtlich nimmt Pedretti durch die Wiederholungen und visuellen Ausgestaltungen der Einzelworte Bezug zu einem im Dadaismus, später in der visuellen und konkreten Poesie der 1960er Jahre verbreiteten literarischen Verfahren, das die Bildlichkeit der Wörter und Buchstaben ins Zentrum rückt. Durch die Repetition der einzelnen Satzteile und durch einen strengen Aufbau des Textes auf visueller Ebene, entsteht ein Text“gebilde“. Dieses zeugt von der Experimentierfreudigkeit der Autorin und bildenden Künstlerin, mit dem sprachlichen Material zu spielen.

Zudem verarbeitet Pedretti intertextuell das Antikriegsgedicht Alle Tage von Ingeborg Bachmann und referiert somit auf eine Autorin, die in ihren literarischen Hauptwerken in den 1970er Jahren wie sie selbst eine Sprache für die eigene Befindlichkeit angesichts der zeitlichen Umstände suchte. Pikanterweise schafft sie mit dem Satzteil „alle Tage“ nicht nur einen Bezug zur abstrakten Thematik der Zeit, der Darstellungsmöglichkeiten des Augenblicks und Gegenwärtigen, sondern appelliert direkt an das politische Bewusstsein ihrer Leser:innen. Das Gedicht der österreichischen Schriftstellerin Bachmann entstand 1952 in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges. Pedretti legt ihre Wortsplitter in unterschiedlichen visuellen Konfigurationen über einen halb verdeckten Zeitungsartikel, der die aktuelle Innenpolitik Österreichs thematisiert. viii Dadurch entwickelt sich Pedrettis Spiel mit den Medien zu einem Spiel mit intertextuellen Bezügen, aber auch zu einem Spiel mit uns Lesenden, die mögliche Bedeutungen erst nach diversen Entzifferungen und mehrmaligem Lesen erahnen können: in diesem Blatt als politischen Appell.

Was ist gleichzeitig darstellbar?

Das letzte Blatt aus Heute beginnt mit folgenden Sätzen:

Zurück aus Krakau. Ein Kinderwunsch ist in Erfüllung gegangen. Jetzt brauche ich Ruhe, um die vielen Eindrücke zu verdauen. Viel Unverdauliches. Während an meinen Hosenstössen noch der Dreck von Auschwitz klebt, so wie das, was ich dort gesehen und erfahren habe, noch im Hinterkopf klebt, blüht es im Garten, die Narzissen, frühe Tulpen, und die Knospen am Kirschbaum sind am Aufbrechen. Das Unvereinbare im Kopf. Alles, Schönes und Grausames, gleichzeitig. ix

Pedretti beendet ihr Journal mit ihren ureigensten Themen: Idylle und Leben versus Kriegserfahrung. Die Blumen im Garten und die Geburt eines Kindes werden überblendet von den Bildern, die ein Besuch im ehemaligen Konzentrationslager hinterlassen haben. „Was ist als Ganzes überhaupt darstellbar?“ Mit dieser rhetorischen Frage schliesst die Autorin ihre Betrachtungen und beantwortet sie mit der Materialinszenierung des letzten Tagebuchblattes gleich selbst: Die Handschrift ist kaum noch lesbar. Zwei Schriftschichten überlappen sich stellenweise und schaffen insbesondere über dem dunklen Grund einer Zeitungsfotografie ein schemenhaftes Konglomerat von Licht, Schatten, Farbe und kaum erkennbaren Buchstaben.
Zugleich ist ein Ganzes aber doch darstellbar, wie Pedretti vorführt. Sogar Ereignisse, die an unterschiedlichen Orten oder gleichzeitig stattfinden, können im Kunstwerk nachempfunden werden, nämlich im Spiel mit verschiedenen Medien, die sich überlagern wie die Erinnerungen im menschlichen Gedächtnis.
Erica Pedrettis Heute ist auch ein Aufruf an ihre Leserschaft, bewusst mit medialen Meldungen umzugehen und sinnvoll in die eigene Geschichte einzubauen: Chroniken bestehen aus Augenblicken, die wir miteinander verknüpfen. Geschichtsschreibung ist auch individuell.


i Erica Pedretti: Harmloses, bitte, Frankfurt a.M. 1996 (Pedretti 1970; 1973; 1977), 15.
ii Ebd. 21.
iii Erica Pedretti: Engste Heimat, Frankfurt a.M. 1995, 16.
iv Erica Pedretti: Heute. Ein Tagebuch, Frankfurt a.M. 2001.
v Ebd. [44] bzw. 56. Die Seitenzahlen in den eckigen Klammern beziehen sich auf die unpaginierten Reproduktionen im ersten Teil der zitierten Ausgabe.
vi Basler Zeitung, Mittwoch 2. Februar 2000, Nr. 27, 51. Archiviert u.a. im Literaturarchiv in Bern.
vii Erica Pedretti: Heute. Ein Tagebuch, Frankfurt a.M. 2001, [6] bzw. 58/59.
viii ÖVP droht internationale Isolierung / Haider geht in die Gegenoffensive. Basler Zeitung, Mittwoch 7. Februar 2000, Nr. 31, 4.
ix Erica Pedretti: Heute. Ein Tagebuch, Frankfurt a.M. 2001, [22] bzw. 79.