Fussballchroniken dienen häufig rein kommerziellen Zwecken und ähneln sich meist in ihrer Ausgestaltung und ihrem Stil, sie glorifizieren Spieler und erzählen Heldengeschichten. Nicht selten wird in ihnen aber auch eine Geschichte ihrer Gegenwart mitgeschrieben, in kleinen Detailbeobachtungen oder beiläufigen Bemerkungen. Vereinzelt thematisieren solche Chroniken sogar sich selbst und ihre medialen Voraussetzungen. Günther Pohls Buch Europa – wir kommen. Der Weg in den Uefa-Cup (1997) führt das exemplarisch vor Augen.
Vom europäischen Spitzenklub bis zum Dorfverein sind Vereinschroniken weitverbreitet. Meist anlässlich eines Jubiläums verfasst, wird in ihnen die Geschichte eines Fußballvereins mit allen Erfolgen und Niederlagen über eine lange Dauer hinweg erzählt. Die Chronik über die Saison 1996/97 der Profimannschaft des VfL Bochum 1848 e. V. stellt einen besonderen Fall dar. Berichtet wird von einem unerwarteten Ereignis, das die ansonsten eher gleichförmig-triste Vereinsgeschichte unterbricht: Der Weg vom Außenseiter zum Europapokalteilnehmer.
Überraschende Ereignisse
Die Spielzeit 1996/97 ist zweifelsohne die erfolgreichste für den Fußball im Ruhrgebiet. Schalke 04 gewinnt als Außenseiter am 21. Mai 1997 in Mailand den Uefa-Cup und Borussia Dortmund holt sieben Tage später den Titel der Champions League im Olympiastadion in München. Zwei Szenen sind dabei in das kollektive Fußballgedächtnis eingegangen: Der vom Schalker Torwart Jens Lehmann gehaltene Elfmeter im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion und das Traumtor des jungen Dortmunders Lars Ricken. Neben den beiden historischen Siegen in den größten europäischen Mannschaftswettbewerben geriet ein anderer Erfolg in den Hintergrund, der nicht weniger sensationell war: Mit einem 6:0 Heimsieg über St. Pauli erreichte der oftmals als ‚graue Maus‘ des Fußballgeschäfts bezeichnete VfL Bochum den fünften Tabellenplatz der Bundesliga und löste damit erstmals in der Vereinsgeschichte das Ticket für einen europäischen Wettbewerb.
Den Weg zu diesem historischen Vereinserfolg vom holprigen Saisonstart bis hin zu der „größte[n] Fete der Vereinsgeschichte“ i zeichnet der Autor Günther Pohl, freier Journalist und bekennender Bochum-Fan, in Tagebuchform vom 8. Juli 1996 bis zum 30. Juni 1997 nach. Erzählt wird durchaus Disparates, Berichte über den Beginn der Saisonvorbereitung und die ersten Testspiele stehen neben Geburtstagsveranstaltungen, wilden Partys nach Heimsiegen, Geburten von Spielerkindern und privaten Reisen der verschiedenen Protagonisten. Häufig sind Fotos in den Text eingerückt, die Spieler im privaten Umfeld zeigen, beim Spielen mit den Kindern, auf der Couch im heimischen Wohnzimmer, beim Freizeitausflug mit der Harley Davidson, beim Einkaufen und sogar beim Anschneiden der Hochzeitstorte. Die vielen Details sowie die teilweise genauen Zeit- und Ortsangaben unterschiedlicher Begebenheiten lassen darauf schließen, dass das Tagebuch fortlaufend und nicht retrospektiv verfasst wurde. Dazu passt auch der meist nüchterne Protokollstil und der Verzicht auf nachträgliche Selektionen, wodurch einige abseitige Kuriositäten aufgezeichnet sind wie beispielsweise der Bericht über einen Strafzettel oder die Erwähnung der neuen Gardinen, die den VIP-Raum schmücken.
Freitag, 19. Juli
Bei aller Popularität, Klaus Toppmöller kommt auch nicht um ein ‚Knöllchen‘ herum. Als sich Klaus Toppmöller in der Mittagspause mal wieder in seinem Stammlokal ‚Wiener Café‘ niederläßt, klebt die Zahlungsaufforderung schon an der Windschutzscheibe. ii
Das Nebeneinander der heterogenen Eintragungen lässt keine nachträglich inszenierte Dramaturgie erkennen, die retrospektiv bereits am Saisonbeginn Zeichen für den späteren Erfolg erkennen will und die Erzählhaltung darauf ausrichtet. Die einzelnen Einträge, vor allem wenn sie etwas länger sind, können zwar durchaus eine narrative Struktur aufweisen, insgesamt überwiegt aber ein rein dokumentarisch-protokollierendes Verfahren. Häufig dient die diaristische Aufzeichnungsweise dazu, unterschiedliche Hindernisse und Herausforderungen zu dokumentieren, die es auf dem Weg dorthin zu bewältigen galt: Verletzungen, Abstellungen von Spielern für die Nationalmannschaften, Spielverschiebungen und natürlich auch sportliche Rückschläge in Form herber Niederlagen.
Das Buch im Buch im Buch – Minimaleffekte der Selbstthematisierung
Von den 194 Seiten des Erinnerungsbuches nimmt das Tagebuch die ersten 80 Seiten ein. Auffällig ist dabei die Gestaltung dieser Seiten im Vergleich zum Rest des Buches: An den Rändern zeichnen sich schwach Seiten eines in das Buch kopierten Buches ab. Die Chronik der Saison ist so als Buch im Buch von den anderen Inhalten abgehoben. Zudem stellt das Wintertrainingslager vom 27. Januar bis zum 3. Februar 1997 unter dem Titel Andalusisches Tagebuch ein Tagebuch im Tagebuch dar, so dass es sich durch die formalen Gestaltungsprinzipien eigentlich um drei zusammengefügte Bücher handelt.
Die montageartige Hervorhebung des Tagebuchs suggeriert eine zeitliche Nähe der Aufzeichnungen zu den Ereignissen des Tages, die das Erinnerungsbuch als Ganzes durch sein späteres Erscheinen nicht hat. Dem korrespondiert allerdings keine markante Chronistenfigur, die nur einmal und an unbedeutender Stelle direkt von sich spricht. Statt einer einzelnen Erzählfigur bestimmt Vielstimmigkeit die chronistische Aufzeichnung, denn die Spieler sowie die Betreuer und Funktionäre kommen häufig in Form von Zitaten und Anekdoten direkt zur Sprache. Der Chronist fungiert vor allem als Herausgeber, der Stimmen, alltägliche Geschehnisse und unvorhergesehene Ereignisse sammelt und archiviert.
Das Fehlen einer übergeordneten Erzähl- und Deutungsinstanz, die den Erfolg im Rahmen einer längeren Geschichte kontextualisiert, lässt den Erfolg am Saisonende umso erstaunlicher erscheinen. Dazu passt auch, dass dem Tagebuch keine Einleitung vorangestellt ist, die die Ereignisse von vornherein in einen größeren Zusammenhang einordnet. Die Aufzeichnungen beginnen in medias res und da am Ende der Saison schon wieder die Vorbereitung für die nächste Saison wartet, enden die Aufzeichnungen auch in medias res. Durch diese losen Enden präsentiert sich die Saisonchronik zwar als Ausschnitt, bezieht die jüngsten Ereignisse jedoch nirgends auf die longue durée der Vereinsgeschichte.
Allerdings reflektiert die Chronik vereinzelt ihre eigene Zeitgebundenheit und bringt den nur vorübergehenden Aktualitätswert der eigenen Aufzeichnungen zum Ausdruck.
Montag, 2. Dezember
Der gute Vorverkauf zieht noch einmal an. Die Nikolaus-Party im Ruhrstadion wird vor vollen Rängen stattfinden. Während die Rasenheizung auf Hochtouren läuft, schreiben sich Peter Közle und Thomas Stickroth auf dem VfL-Stand am Weihnachtsmarkt die Finger wund. Hier gibt es das eine oder andere Schnäppchen für den Gabentisch noch zu kaufen. So wird das Aufstiegsbuch zum Preis von DM 9,90 feilgeboten. iii
Prospektiv historisieren sich die Aufzeichnungen hier selbst. Denn das Schicksals des Verramschens, das dem Buch der Vorsaison widerfährt, dürfte alsbald auch der gegenwärtigen Chronik blühen. Zur Zeit der Veröffentlichung des Eintrags ist nämlich längst schon wieder die neue Saison 1997/98 angelaufen, die wiederum neue Aufzeichnungen verlangt. Der Autor ist in allen drei Fällen wenig überraschend derselbe, der hier beiläufig als Chronist zwischen Vorgeschichten, Gegenwart und zukünftiger Vergangenheit in Erscheinung tritt.
Zeitgeschichtliche Partikel
Der Einzug des VfL Bochum in den Uefa-Cup fällt in eine Phase tiefgreifender Veränderungen im Profifußball, der ab der Mitte der 1990er Jahre einige Professionalisierungs-, Vermarktungs- und Kapitalisierungsschübe erfährt. So setzt zu Beginn der 1990er Jahre mit dem Fernsehsender Premiere die Ära des Pay-TVs ein. Die Fernsehgelder wurden zu der entscheidenden Einnahmequelle für die Fußballvereine und die Verteilung richtete sich nach Ligazugehörigkeit und Erfolg. Das mediale Interesse steigt auch im Umfeld der Bochumer Mannschaft, der Chronist berichtet mehrmals von allseits präsenten Kamerateams, die Interviews führen, Homestorys drehen und die Spieler auf Schritt und Tritt begleiten. Das geht so weit, dass der Spieler Darius Wosz auf einer privaten Fahrt zum Krankenhaus begleitet wird, um seine Frau und das neugeborene Kind abzuholen. Aus der Fokussierung auf die 90 Minuten Spielzeit wird allmählich ein aufwendig inszeniertes Hochglanzprodukt mit Daily-Soap-Elementen. Indem das Tagebuch hiervon berichtet, dokumentiert es zugleich nebenbei die sich verändernde gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs. Dazu gehört auch eine zunehmende Kommerzialisierung, die sich etwa in der der Eröffnung des ersten offiziellen Fanshops niederschlägt. Außerdem werden immer häufiger Spiele für reine Werbezwecke ausgetragen. Die Berichte über die damit einhergehenden Reisetrapazen veranlassen den Chronisten zu einer Reflexion über den Faktor Zeit und Beschleunigungsmechanismen im täglichen Fußballgeschäft. Der gewöhnliche Rhythmus von Spieltag zu Spieltag wird unterbrochen und die Taktung zwischen Training, Spielen, Presseterminen und Repräsentations- sowie Werbeterminen wird immer enger. Das wirkt zurück auf den Aufzeichnungsstil: Um möglichst viele dieser Termine aufzuzeichnen, werden die Berichte über einzelne Geschehnisse immer stakkatoartiger. Das veränderte Zeitmanagement und die zunehmende Termindichte verändern auch den Stil der chronistischen Notationen.
In der gleichen Zeit setzt eine Verwissenschaftlichung des Fußballs ein. Die Sendung ran -Sat. 1. Bundesliga erhebt ab 1992 umfassende Daten zu Spielern, Fußballpartien und Vereinen. Der Chronik kann entnommen werden, welche Bedeutung diesen Statistiken zukommt. Sie werden zunehmend zum Faktor von Entscheidungen über Aufstellungen, Vertragsverlängerungen und Neuverpflichtungen. Das geht einher mit dem beginnenden Einsatz von Laptops und Handys. Gegenüber diesen ersten Schritten digitalisierter Datenerfassung wirkt der Chronist als Figur eines zunehmend obsolet werdenden Wissensmanagements. Sein eigenes Datenverarbeitungsprogramm ist nicht nur noch das handschriftlich verfasste Tagebuch, sein Datenspeicher ist darüber hinaus das persönliche Gedächtnis. Die gelegentliche Überlegenheit dieser anachronistisch werdenden Aufzeichnungsstrategien gegenüber anderen Formen der Sammlung und Verarbeitung historischer Daten demonstriert er ausführlich und mit erhobenem Zeigefinger:
Montag, 21. April
Auch am trainingsfreien Tag liefert der VfL Gesprächsstoff. So meldet die BILD-Zeitung, daß der reebok-Vertrag zum Saisonende ausläuft und der Hauptsponsor Norman Faber mit einer eigenen Kollektion auf den Markt kommen will. Bochums ältere Fans werden an diesem Tag noch um eine Erfahrung reicher. Auch was zweimal hintereinander in der Tageszeitung steht, muß nicht wahr sein. Dort war zu lesen, daß der Vfl auf ‚Giesings Höhne‘, sprich im Stadion an der Grünewalder Straße, in der Saison 1980/81 seinen einzigen Auswärtspunkt bei den ‚löwen‘ gewonnen hat. Fakt ist: dieses Spiel hat dort nie stattgefunden, sondern im Olympiastadion. Pinkall und Oswald trafen damals vor 22.000 Zuschauern zum Remis. Sorry, wenn schon Geschichte, dann bitte richtig. iv
Neben den Veränderungen im Fußballgeschäft dokumentiert die Chronik nebenbei Zeitgeschichtliches. Indem der tiefgreifende Strukturwandel im Ruhrgebiet, die ökonomischen Krisen und sozialen Verwerfungen der 1990er Jahre mitkommuniziert, manchmal sogar eigens zum Gegenstand des Berichts gemacht werden, wird die Chronik einer Fußballsaison en passant selbst zu einem Zeitdokument. Am 14. Februar 1997 berichtet das Tagebuch, dass alle Spieler und Mitarbeitende sich solidarisch mit den Protesten gegen die Schließung der Zechen zeigten, indem sie an diesem Tag an der größten Menschenkette teilnahmen, die es im Ruhrgebiet je gab. Die Widerstände und Proteste gegen diese Veränderungen wurden kurze Zeit später auch buchstäblich auf den Fußballplatz getragen. Unter dem Eintrag vom 7. März 1997 berichtet der Chronist, dass 50 Bergleute vor dem Anpfiff des Heimspiels des VfL Bochum auf dem Fußballrasen gegen die Schließung ihrer Zechen demonstrierten. Es ist der Tag des Derbys zwischen Bochum und Schalke, zweier leidenschaftlicher Rivalen. Im Moment des Einzugs der Bergmänner, so erzählt der Chronist pathetisch, verstummen alle Schmähgesänge gegen den Gegner und das ganze Stadion solidarisierte sich mit den Bergmännern. Im Gegensatz zu dem ansonsten nüchternen Protokollstils insistieren die Aufzeichnungen hier nachdrücklich auf die Rolle des Fußballs als Schauplatz von kollektiver Identitätsstiftung. Wenngleich dieses Phänomen älter ist, könnten die Erfolge, die der Ruhrgebietsfußball Mitte der 1990er Jahre verzeichnen konnte, durchaus zu einem neuen Selbstbewusstsein in gesellschaftlichen Krisenzeiten beigetragen haben. Dazu verhalfen, so will es die Chronik nahelegen, nicht nur die europäischen Titel, die die großen Nachbarn aus Schalke und Dortmund gewonnen haben. Dazu ist auch der Erfolg der Bochumer Mannschaft zu rechnen, die ihr Image als ‚graue Maus‘ ein Jahr später auch ganz augenscheinlich durch ihr epochenmachendes Regenbogen-Trikot ablegte und beachtliche Erfolge im Uefa-Cup erzielte. Aber das ist schon der Gegenstand einer anderen Chronik.
i Günther Pohl: Europa – wir kommen. Der Weg des VfL Bochum in den Uefa-Cup. Essen 1997, S. 85.
ii Ebd., S. 31.
iii Ebd., S. 61f.
iv Ebd., S. 78.