Zellenblock und Bürgerhaus

Von 1971 bis 1984 veröffentlicht Walter Kempowski eine Reihe von sechs Romanen und drei Interviewbänden unter dem Titel „Deutsche Chronik“. Mit deutlich autobiographischen Zügen wird dabei die Geschichte der Familie Kempowski in mehreren Generationen erzählt: Wie seine Eltern sich in am Anfang des Jahrhunderts kennenlernen und im Krieg verloben, wie sie in der Zwischenkriegszeit eine bürgerliche Existenz aufbauen, an der sie auch während der NS Zeit festhalten, Kriegsende, die politische Haft des jungen Walter, seine Übersiedlung in die BRD. Die sechs Romane erzählen die Familiengeschichte aus Versatzstücken: Aus einzelnen Szenen, aus Anekdoten, aus Sprüchen. Die drei „Befragungsbände“ stellen dem die große und kleine Geschichte gegenüber: in Ihnen sammelt Kempowski Antworten auf die Fragen „Haben Sie Hitler gesehen?“ und „Haben Sie davon gewusst?“ sowie Erinnerungen aus der Schulzeit.

Zellenblock und Bürgerhaus

von Daniel Weidner

Betont bürgerlich gab sich Kempowski als Autor, betont bürgerlich sind auch seine Texte: Sie behandeln eine selbstbewusste, unangefochtene Lebensweise, die weder um Genuss noch um die Deutung des Lebens verlegen ist und auch angesichts extremer Ereignisse die Ruhe nicht verliert. Aber die Mittellage täuscht: In seinen Geschichten alltäglicher Routinen ist die betont ausgestellte Behaglichkeit doch auch gebrochen. Gerade die sequenzielle Aneinanderreihung einzelner Bilder und Zitate macht das möglich, denn an den Nahtstellen und Kanten dieser Erinnerungsstücke schlägt sich die historische Wirklichkeit nieder, die hier auf ganz bestimmte all-tägliche Art sichtbar wird.

Kempowski bildet seine Schreibweise an einem Ort aus, der alles andere als gemütlich ist: Im Zuchthaus Bautzen, wo er von 1948 bis 1956 als politischer Häftling seine Strafe absitzt:

Wenn der Posten auf der gegenüberliegenden Gangseite die Spione hochschob, gab es ein feines, quietschendes Geräusch. Kam es in meine Nähe, dann ging ich sinnend auf und ab. Oder ich brütete vor mich hin: Ein einsamer Mensch.
‚An Mutter denken?‘ fragte der Posten durch die Tür.

Zeitweilig stellte ich mir die Zelle als Schiffskajüte vor. Ring-Ring! Beide Maschinen volle Kraft voraus!
Unterm Bett würde ich ein Schapp anbringen für Schiffszwieback und Dauerwurst. Und unters Fenster käme ein bequemer Sessel.
Alles mit Mahagoni täfeln und Pfeife rauchen.

(Mein Vater ging sonntags oft mit mir an den Hafen. Von der Fischerbastion aus, mit ihren alten Kanonen, hatte man einen weiten Rundblick.) i

Der 1969 als Im Block veröffentlichte Text entspringt der Zelle, deren räumliche Enge und Isoliertheit die Bedingung der literarischen Imagination wird. Das Subjekt ist hier dem panoptischen Blick ausgesetzt, posiert aber vor diesem auch als „einsamer Mensch“, also: als potentieller Autor. An „Vater denken“ wird dann auch später die entscheidende Produktivkraft von Kempowskis Texten werden. Geschlossene Kammern werden auch später noch eine zentrale Rolle spielen, so etwa das Dachzimmer, in dem er als Jugendlicher mit Scharlach krank liegt. Solche Zellen schließen das Subjekt aus der Welt aus, eigenen sich aber gerade dadurch auch als Projektionsräume. Sie sind gewissermaßen negativ gewendete Idyllen, die gerade durch ihren abgeschlossenen Charakter imaginäre Wirklichkeit erzeugen.

Im Block heißt auch: ‚im Textblock‘. Denn die typographische Gestaltung wird von nun an typisch für Kempowskis Texte sein, die aus kleinen, immer wieder unterbrochenen Textblöcken bestehen: meist in vager Abfolge, aber keiner eindeutigen Chronologie, parataktisch, stark elliptisch, oft nur wenige Zeilen umfassend, immer wieder unterbrochen durch unvermittelt eingestellte Zitate, Lieder, Gedichte, Textfetzen.

Kurz darauf wurden wir wieder einmal zum Spazierengehen herausgelassen. Es war das zweite Mal.

‚Nun armes Herz vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden.‘

Manfred wedelte vogelscheuchenartig mit den Armen. Wir sahen ihm zu – der Posten, Günther und ich.
Speckdüfte aus der Küche.
Nach zwanzig Minuten durften wir endlich wieder rein. Wir waren so schwach, daß sie uns am Treppengeländer hochzogen. ii

Dieser Block wird narrativ ein- und ausgeleitet („Kurz darauf“, „Nach zwanzig Minuten“), stellt aber selbst eher eine Momentaufnahme dar, bei den Speckdüften fällt sogar das Verb aus. Gewissermaßen quer zur Beschreibung steht das Zitat von Uhlands Frühlingsgedicht, das der Szene den ambivalenten Charakter eines emblematischen Doppelbildes gibt: die idyllische Erinnerung kontrastiert mit der dürren Wirklichkeit. Durch die beständige Unterbrechung erscheinen uns die Textstücke einerseits als authentische Wirklichkeit, als ein ‚wirkliches‘ und gewissermaßen zitiertes Stück Vergangenheit, andererseits als dekontextualiserte Bruchstücke einer Erinnerungsarbeit.

So entstehen diese Texte auch: In Tagebüchern und Erinnerungsprotokollen notiert Kempowski zunächst alles, was ihm einfällt, das wird dann auf Karteikarten übertragen, die mehrfach sortiert, ausgewählt, collagiert werden. Assoziative Schreibweise und Archiv bedingen sich, dabei werden syntaktische und narrative Verknüpfungen im Schreibprozess zunehmend eliminiert. In Im Block ist noch die Klammer stehengeblieben, welche die Erinnerungen an den gemeinsamen Spaziergang mit dem Vater als Erinnerung markiert – sie ist ja tatsächlich durch die Haftsituation ‚ausgeklammert‘, weil nicht verfügbar. In späteren Texten fehlen solche Verbindungen und der Zeitsprung bleibt unmittelbar stehen: Die Textbausteine stehen blockhaft, mosaikhaft nebeneinander und ihre Bedeutung entspringt gerade der Unbestimmtheit, die dieser Anordnung eigen ist.

Fragiles Interieur

Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?) Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie der damals explodierte.
Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.

Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelt hatte. Den ‚gelben Onkel‘ nahm man mit, mit dem gab es ab und zu ‚hau-hau‘! Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft. Vom Balkon eine Aussicht – wonnig. Und keine Öfen zu heizen, das war auch was wert. iii

Kempowskis bekanntester Roman, Tadellöser & Wolff beginnt schon im bürgerlichen Raum, genauer: im Interieur, das in Unordnung geraten ist. Es ist ein Aufstieg, man zieht in eine neue Wohnung, die „herrlich, zauberhaft, wonnig“ sein wird und eine Zentralheizung hat. Die bürgerliche Welt nimmt im Roman einen breiten Raum ein: Von der Zimmerpalme über die Möbelstücke, von den familiären Rollen – dem Vater, der das beste Stück bekommt, der Mutter, die sich immer nur ‚Liebe‘ wünscht – über die eigenartigen Tabus, von der Ausstattung mit Kultur – hier Bücherschrank dort Flügel – über die zahlreichen auch hier eingestreuten Zitate von Liedern und Maximen, vor allem aber von den zahllosen Redensarten der Kempowskis: Bürgerlichkeit wird als Lebensform kartiert, und zwar ebenfalls als eine Art Idylle, als ein geschlossener Raum des privaten Rückzugs, der es dann auch nicht allzu schwer hat, sich mit ganz verschiedenen historischen Situationen zu arrangieren.

Allerdings ist die Idylle nicht ungebrochen, und sie ist nicht nur durch die anfängliche Unordnung gefährdet. Neben all dem Schönen taucht auch der „gelbe Onkel“ auf, und das „Hau-Hau“:  Im gemütlichen bürgerlichen Familienleben wird geschlagen, im Text gibt es Fremdkörper, hier markiert durch die Anführungszeichen; sie verweisen auch schon auf die Perspektive, aus der hier erzählt wird: es ist die beschränkte eines Kindes, das viele Sichtweisen übernimmt, ohne sie zu verstehen – das überhaupt durch fremdes Sprechen gesprochen wird.

Zur bürgerlichen Existenz gehört das Familienalbum, mit dem das erste Kapitel von Tadellöser &Wolf schließt:

Die ganze Familie wurde fotografiert.
Die Mutter im Pelerinenkleid, Robert beim Segeln und ich im Hamburger Anzug.
Vater sogar als SA-Mann unter einer Birke. iv

Kurz blitzt in der Bürgerwelt der zeithistorische Kontext auf – und das ist um so unheimlicher als es ganz selbstverständlich geschieht: Vom Eintritt des Vaters in die SA, ja von der SA überhaupt war vorher nie die Rede. Das gemütliche Familienleben schlägt plötzlich um in ein historisches Bild – dass das am Kapitelende geschieht, verstärkt diese Wirkung noch: mit dem ‚Nachhall‘ der Stelle wird das Gedächtnisbild gewissermaßen imprägniert, umgekehrt transportiert dieses Bild von jetzt an auch seine unheimliche Kehrseite der historischen Wirklichkeit, die in der weiteren Erzählung immer wieder aufblitzt:

Nach dem Kino ging es ins Lesecafé. Dort saßen Freunde vom Yachtklub.
Juden unerwünscht!
Henry, mit dem weißen Rollkragenpullover Kupfermünzen am Uhrarmband, wahnsinnig kräftig [… ]. v

„Juden unerwünscht!“ passt offensichtlich nicht in die Erzählung und nicht in das Leben des Jungen. Der Satz verhält sich diskontinuierlich zur Darstellung, wird nur wahrgenommen aber nicht eigentlich gelesen – wahrscheinlich ist es ein Schild am Lesecafé. Unentscheidbar bleibt, ob das Schild damals wahrgenommen, aber nicht verstanden wurde (oder jedenfalls isoliert blieb), oder ob diese Wahrnehmung erst in der Erinnerung sich einstellt, ob es sich also um erinnerte Beschreibung oder beschreibende Erinnerung handelt.

Den Alltag collagieren

Uns geht’s ja noch gold, der Roman, der die Nachkriegsgeschichte der Familie Kempowski erzählt, beginnt erneut mit einem Bild, das diesmal vom inzwischen halbwüchsigen Erzähler Wolfgang gesehen wird:

Wenn ich mich etwas vorbeugte, konnte ich vom Schlafzimmerfenster aus alles gut überblicken. Drogerie, Kotelmann, Schlachter Timm. Seifenheimchen schloss das Fenster.

Gegenüber die Paulstraße, die machte hinten einen Knick: bis dahin war das Feuer gedrungen, bei der ‚Katastrophe, wie die Leute die Angriffe von 1942 nannten. Vor der Katastrophe und nach der Katastrophe. Jetzt würde es vor und nach dem Zusammenbruch heißen

[…]
An der Ecke hielt ein Motorrad mit Russen. Im Beiwagen lagen Schuhe, die herunterbaumelten. Die Schuhe hatten sie vom Schuster geholt. Rrrrt! Mit der Maschinenpistole die Scheibe kaputtgeschossen, einen ganzen Arm voll, noch mit Pakethängern, wem sie gehörten. Hoffentlich viel einzelne.

Die Russen flachsten mit einer Ostarbeiterin. Die zeigte auf unser Haus.

‚Komm lieber vom Fenster weg‘, sagte meine Mutter.
‚Sonst werden die noch aufmerksam.‘

Sie räumte den Kleiderschrank auf.

Geblüht im Sommerwinde
Gebleicht auf grüner Au Ruhst still Du jetzt im Spinde
als Stolz der deutschen Frau.
Alles schön auf Kante. Waschlappen, Taschentücher (früher ritsch-ritsch-ritsch mit Kölnisch Wasser)- Badelaken noch aus Wansbek. Indanthren: links Sonne, rechts Regen, in der Mitte ein stilisiertes I. vi

Deutlicher kann der Rückzug ins Private kaum vollzogen werden als durch den schon fast grotesken Kontrast zwischen Kriegsende und dem hausfraulichem Tun der Mutter. Die Regression ins Interieur inklusive der bürgerlichen Werte von Ordnung und Innerlichkeit steht für die Unfähigkeit der Rostocker Bürger, mit dem Gesehenen und dem Geschehen umzugehen, und der Kontrast zwischen Ereignis und Reaktion, zwischen Geschichte und Subjekt, zwischen Innenraum und Landschaft der Geschichte ist konstitutiv für die erzählerische Verfremdung, die Kempowksi praktiziert. Dabei kommt es jetzt auch zu Wiederholungen und zum Wiedererkennen:

Abends von sechs bis sieben trafen wir uns im Lesecafé, jeden Tag. Das war ein sogenanntes ‚Dienstmädchenlokal‘, ein langes, schmales Handtuch.
Juden unerwünscht!
Dies Schild war abgeschraubt. (Zum Klo ging es nach unten.) vii

Erst jetzt, in der Nachkriegszeit, wird verstanden, worum es damals ging, auf dem verschwundenen Schild, das nun eine Leerstelle in der Erinnerung markiert. Es sind gerade solche Leerstellen, die den Bildcharakter der Erinnerung als solcher konstituieren. Sie stellen den Text still und sie unterbrechen auch die nostalgische Verklärung der Erinnerung. Denn gerade durch die permanente Unterbrechung wird auch das einzelne Bild den Erinnerungsfluss entzogen und öffnet damit die Erinnerung für andere Wahrheiten.



i Walter Kempowski: Im Block, Frankfurt a.M. 1972, 13f.
ii Ebd. 22.
iii Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München 1975, 7
iv Ebd. 15.
v Ebd. 28.
vi Walter Kempowski: Uns geht´s ja noch gold. Roman einer Familie, München 1975, 7.
vii Ebd. 212.