Philologischer Rohstoff

Als Lingua Tertii Imperii - die „Sprache des Dritten Reiches", betitelte Victor Klemperer seine 1947 unter einigen Publikationsschwierigkeiten erschienene Studie zu Sprache und Leben im Nationalsozialismus. Die Untersuchung vereint Tagebucheintragungen des persönlich Betroffenen mit linguistischer Forschung und reflektiert dabei immer wieder die Umstände der eigenen Genese. In einem einzigen Werk trifft hier gegenwärtige Chronistik auf retrospektive Analyse: Sprachwissenschaft als selbstreferentielles Experiment.

Philologischer Rohstoff

von Leon Bertz

Im vagen, vorläufig nur antizipativen Gespür für die eigene Gegenwart als geschichtliche Extremsituation gewinnen und gewannen immer wieder Formen des Schreibens Popularität, die dem Wunsch nach dokumentarischer Fixierung neuer, außergewöhnlicher Erlebnisse Rechnung tragen. Niederschwellige literarische Techniken des Tagebuchs, Journals, der Memoiren ermöglichen einen Ausdruck individueller Zeitzeugenschaft und erlauben sowohl ihren eigenen Autor:innen als auch späteren Generationen retrospektiven Einblick in das historische Empfinden breiter gesellschaftlicher Schichten.

Weil die durch derartige Lektüren möglichen Erkenntnisse über die bloße Rekonstruktion des materiell Geschehenen hinausgehen, verbindet sich das subjektive Tagebuchschreiben häufig mit dem Bewusstsein einer überindividuellen „Chronistenpflicht“ i, die das Festgehaltene zum Zeugnis exemplarischen Erlebens erhebt. Besondere Funktion gewinnt diese Form von Autorschaft, wenn den Schreibenden ihre Aufzeichnungen nur unter Gefährdung des eigenen Wohls, mitunter sogar des Lebens selbst möglich sind – Guerillahistoriographie für die Nachwelt.

Chronistik unter Lebensgefahr

Aufzeichnungen dieses Charakters finden sich im 20. Jahrhundert vor allem zu Zeiten des Nationalsozialismus, verfasst von den Opfern und Dissidenten des totalitären Regimes. Als unter gewissen Aspekten einmalig zu betrachtendes Dokument in den Reihen der bekannteren Journale dieser Epoche ii stechen die Tagebücher des Romanisten und Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer heraus, dessen Schreibpraxis während der NS-Herrschaft von der Forschung ein „wahnwitziger Mut des Chronisten“ iii zugesprochen wurde. Klemperer – jüdischer Sohn eines Rabbiners und Professor an der Technischen Universität Dresden – pflegte das Tagebuchschreiben von früh an als persönliche Gewohnheit; dementsprechend handeln die frühen Notizen eher von privaten Episoden denn kritischer Zeitbeobachtung. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und den zunehmenden antisemitischen Repressionen lässt sich in den Aufzeichnungen ab 1933 jedoch ein Wandel „vom privaten Tagebuchschreiber zum Chronisten der Leidesgeschichte der Dresdener Jüdinnen und Juden“ iv vernehmen. Bedingung und Preis dafür war – insbesondere ab den 40er Jahren – das ständige Risiko des Entdecktwerdens:

Ich möchte einmal den Stundenplan des Alltags […] festlegen. Im Aufwachen: Werden ‚sie‘ heute kommen? […] Beim Waschen, Brausen, Rasieren: Wohin mit der Seife, wenn ‚sie‘ jetzt kommen. Dann Frühstück: alles aus den Verstecken holen, in die Verstecke zurücktragen. Dann die Entbehrung der Zigarre; die Angst beim Teepfeiferauchen, das nicht gerade ins Gefängnis führt, aber doch Prügel einträgt. Die Entbehrung der Zeitung. Dann das Klingeln der Briefträgerin. Ist es die Briefträgerin, oder sind ‚sie‘ es? Und was bringt die Briefträgerin? Dann die Arbeitsstunden. Tagebuch ist lebensgefährlich, Buch aus der Leihbibliothek bringt Prügel ein, Manuskripte werden zerrissen. Irgendein Auto rollt alle paar Minuten vorbei. Sind ‚sie‘ es? Jedesmal ans Fenster, das Küchenfenster liegt vorn, das Arbeitszimmer hinten. Irgendwer klingelt bestimmt, mindestens einer am Vormittag, einer am Nachmittag. Sind ‚sie‘ es? Dann der Einkauf. In jedem Auto, auf jedem Rad, in jedem Fußgänger vermutet man ‚sie‘. […] Mir fällt ein, ich habe die Mappen eben unter dem linken Arm getragen – vielleicht war der Stern verdeckt, vielleicht hat mich einer denunziert. Beim Einkaufen habe ich als Mischehemann immerhin nicht ganz so vieles zu befürchten wie die anderen. […] Immer wieder schüttelt es mich: Sie werden auch mich holen. Es geht nicht mehr nach Besitz – jeder ist dem Mord ausgesetzt. (20.08.42) v

Durch die zunehmende soziale Isolation, Bibliotheks-, Publikations- und schließlich Berufsverbot war Klemperer bald von den gewohnten Quellen und Praktiken philologischer Forschung vollständig ausgeschlossen. Was ihm bleibt, ist die ständige Niederschrift des Erlebten:

Und ich möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt. (17.01.42) vi

Wie ein „Abwehrmechanismus“ und um „seine eigene Bedrohung und Angst für den Moment vergessen zu können“, denkt er schon bald über eine „‚Studie’ zur Sprache des Dritten Reiches nach und notiert seine Gedanken und Beobachtungen unter der Perspektive einer späteren systematischen Zusammenfassung und Veröffentlichung“ vii. Nach einer schwierigen Entstehungsgeschichte erscheint jene Studie tatsächlich 1947 im Aufbau Verlag als LTI – Notizbuch eines Philologen. Was der Untertitel beschreibt, zeichnet die LTI – Abkürzung für „Lingua Tertii Imperii“ – mit Blick auf ihr Wesen als Forschungsarbeit im Besonderen aus: An Stelle einer traditionellen, systematischen, philologischen Sprachanalyse steht Klemperers Auswertung seiner Tagebuchaufzeichnungen, die die Chronologie, Ereignishaftigkeit und persönliche Betroffenheit durch den Untersuchungsgegenstand beibehält. Eine subjektive „Studie“, um die Sprache des Dritten Reiches, das behandelte „Objekt im Zustand einer Metamorphose zu sehen, halb als konkreten Erfahrungsbericht und halb schon in die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen“ viii.

Betroffene Forschung

Die Verbindung von Tagebuch und philologischer Betrachtung soll dem erklärten Ziel dienlich sein, der „Ganzheit des Phänomens“ ix der LTI zu Rande zu kommen. Aus der akribischen Chronik seiner Erlebnisse schöpft Klemperer den „Rohstoff“ x für eine essayistisch-episodisch angelegte „kulturhistorische Analyse der Gesellschaft, wobei die Gesichtspunkte seiner Interpretation von Alltagsphänomenen zuweilen an strukturalistische und diskurstheoretische Ansätze erinnern“ xi. Selbst chronistischen Charakter bewahrend entzünden sich die Gedanken zur LTI immer wieder an herausragenden Daten:

[W]elches war der schwerste Tag der Juden in den zwölf Höllenjahren? Nie habe ich von mir, nie von anderen eine andere Antwort erhalten als diese: der 19. September 1941. Von da an war der Judenstern zu tragen, der sechszackige Davidstern, der Lappen in der gelben Farbe, die heute noch Pest und Quarantäne bedeutet und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden Bösen; der gelbe Lappen mit dem schwarzen Aufdruck: ‚Jude‘, das Wort umrahmt von Linien der ineinandergeschobenen beiden Dreiecke, das Wort aus dicken Blockbuchstaben gebildet, die in ihrer Isoliertheit und in der breiten Überbetontheit ihrer Horizontalen hebräische Schriftzeichen vortäuschen. xii

Dieser extensiven Beschreibungsprosa bedienen sich auch die daran anschließenden Erörterungen zu den Begriffen der „Judensparte“: „Volljuden“, „Halbjuden“, „Mischlinge ersten Grades“, „Judenstämmlinge“, „Privilegierte“ xiii. Der Darstellungsmodus verweist auf den auch literarischen Charakter der „Studie“, die zuweilen sogar narrativ-dramatische Elemente enthält wie im Anschluss an die Beschreibung des ersten Jahres unter NS Herrschaft:

Wiederum: ich war noch nicht ein bißchen abgestumpft, ich war noch so ganz gewohnt, in einem Rechtsstaat zu leben, daß ich damals vieles für die tiefste Hölle hielt, was ich später höchstens für ihren Vorhof, für den Danteschen Limbo nahm. Immerhin: soviel schlimmer es auch kommen sollte, alles, was sich noch später an Gesinnung, an Tat und Sprache des Nazismus hinzufand, das zeichnet sich in seinen Ansätzen schon in diesen ersten Monaten ab. xiv

Besonders hervorzuheben ist die Darstellung jener ersten Monate in der LTI, weil Klemperer hier direkte Aufzeichnungen aus dem Tagebuch in der entsprechend datierenden Notationsform montiert. Allerdings werden diese originalen Notate nicht unbearbeitet übernommen, sondern einer kompositorischen, gestalterischen und reflektierenden Redaktion unterworfen - ohne solche Eingriffe jedoch sichtbar zu machen. Exemplarische Stellen sind bei Fischer-Hupe xv nebeneinandergestellt. Sie zeigen einerseits die vorgenommene Komprimierung:

Wie andererseits die Erweiterung um nachträgliche Überlegungen:

Neben dieser ersten Stufe der Ausarbeitung werden die montierten Tagebucheinträge auch innerhalb der LTI noch einmal kommentiert wie im Anschluss an die Aufzeichnungen zum Begriff „Europa“: „Nach diesen Notizen kommt das Wort Europa fast acht Jahre lang in meinem Tagebuch nicht mehr vor, obschon ich auf alles achte, was sich mir als Eigentümlichkeit der LTI aufdrängt“ xvi. Gelegentlich integriert Klemperer sogar Ereignisse, die sich in der aktuellen Schreibgegenwart abspielen:

Das Leben erlaubt sich Kombinationen, die sich kein Romancier erlauben darf, weil sie im Roman zu romanhaft wirken würden. Ich hatte meine Europa-Notizen aus der Hitlerzeit zusammengefaßt, […] da bekam ich von meinem Neffen Walter den ersten Brief aus Jerusalem, den ersten nach sechs Jahren. xvii

Addiert man zur Beobachtung die Tatsache, dass Klemperer die Entstehung der LTI-Studie selbst noch einmal im Tagebuch reflektiert hat, erscheint der ganze Komplex als verzweigte mehrschichtige Meta-Forschung, deren eigenes Entstehen sowohl Teil des Untersuchungsgegenstandes als auch der zugrundeliegenden Erkenntnisabsicht darstellt. Die chronistische Arbeit, das projekthafte immer weiter fortschreitende Notieren und die „Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt“ xviii bilden dabei den stabilen methodischen Leitfaden und für Klemperer wohl das einzig angemessene Instrument, um die unauflösbare, weitreichende Verästelung des forschenden Individuums als Teilnehmer:in am Zeichensystem und der Lebensform „Sprache“ abzubilden. Dass Studie und Gegenstand am Ende dieselbe Bezeichnung teilen, ist dabei der wohl augenfälligste Hinweis auf die Verquickung von Selbst- und Fremderkenntnis.


i Nieden, Susanne zur: Aus dem vergessenen Alltag der Tyrannei: Die Aufzeichnungen Victor Klemperers im Vergleich zur zeitgenössischen Tagebuchliteratur. In: Im Herzen der Finsternis. Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit. Hg. von Hannes Heer. Berlin 1997, S. 110-121, hier: S. 115.
ii Vgl. ebd.
iii Ebd. 114.
iv Ebd. 117.
v Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart 2007, 215 f.
vi Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945. Hg. von Walter Nowojski, Hadwig Klemperer. Berlin 1995, 12.
vii Fischer-Hupe, Kristine: Victor Klemperers ‚LTI. Notizbuch eines Philologen‘. Hildesheim 2001, 17.
viii LTI a.a.O. 24.
ix Fischer-Hupe a.a.O. 36.
x LTI a.a.O. 57.
xi Nieden 1997, 120.
xii LTI a.a.O. 223.
xiii LTI a.a.O. 227.
xiv LTI a.a.O. 58.
xv Fischer-Hupe a.a.O. 49, 52.
xvi LTI a.a.O. 215.
xvii LTI a.a.O. 221 f.
xviii LTI a.a.O. 19.