Laufende Leiden

Auf Uve Schmidt (1939-2021) treffen literaturhistorisch interessierte Leser:innen häufig im erweiterten Dunstkreis früher deutscher Poptexte. Der Autor fungierte als „Ideenlieferant“ für den MÄRZ Verlag, veröffentlichte Lyrik und Prosa, edierte verschiedene Erotika und war schließlich als Online-Kolumnist tätig. Zu seinen bekannteren und erfolgreicheren Werken gehören Ende einer Ehe und die Fortsetzung Danach, Kinder einer Ehe, in denen Schmidt als Chronist seiner (vermeintlich) eigenen Ehekrise auftritt.

MÄRZ 1978 und 1979, Berlin/Jossa

Laufende Leiden

von Leon Bertz

Am dritten Juli 1977 um 9 Uhr hält ein Ehemann fest, dass seine Partnerin sich verliebt hat. Nicht in ihn offensichtlich, sondern einen anderen Mann. Der zukünftig Verlassene beginnt zu schreiben, weil er verstehen will. Sich, die Frau, den Ehebruch, die Kinder, eine diffuse Gegenwart auf der Schwelle. Seine Chronik beginnt lakonisch mit dem Gefühl, dass etwas geschehen ist und versucht von nun an, der widerspenstigen Kraft des Faktischen eine Struktur abzuringen.

Aufschreiben, was ist – Rekonstruieren, was war

Der Klappentext beschreibt Uve Schmidts Ende einer Ehe als „Chronik“ einer „privaten banalen Tragödie“. Und das schmale Buch im gelb-roten Einband aus dem einschlägigen Programm des MÄRZ Verlages behandelt auch nur das: Tagebuchartige Aufzeichnungen vom Juli 1977 bis Februar 1978. Vom Entdecken, dass die Ehefrau Inge sich verliebt hat bis zum Auszug des Ehemannes aus dem gemeinsamen Haus. Dazwischen verwandelt sich der Chronist immer wieder in einen Erzähler und fantasiert in kurzen Geschichten darüber, wie es zwischen Inge und ihrer Affäre namens Edmund, „wie es zwischen ihr und dem anderen ist“. Seine chronistischen Einträge dagegen zeigen alltägliche Bestandsaufnahmen, emotionale Reflexionen, Schuldzuweisungen und Reminiszenzen über die Vergangenheit. Sie zeichnen das Bild eines Zustandes im Übergang. Eine Krise, die die in fünfzehnjähriger Ehe eingerichtete Stabilität des bürgerlichen Familienlebens ersetzt hat. Naturgemäß erscheint dem Chronisten für den Moment vieles unverständlich. Er schreibt deshalb auf, was zu jedem Zeitpunkt ist, damit er einmal rekonstruieren kann, was war. Dass die Ereignisse der Stunde noch nicht zur reflektierten Erkenntnis gereift sind, ist die Voraussetzung der chronistischen Form:

13. Juli (22.30h)

[…] Diese Niederschriften können nur den Sinn haben, noch nie Gesagtes oder nur schwer zu Redendes festzulegen. Und sie sollen uns in den Stand bringen, eine wahrhafte Chronik der laufenden Leiden aufzubewahren, um einmal zu wissen, wie einem zumute war. i

Schmidts Chronistenerzähler – dessen Leben bis auf die Namen der darin vorkommenden Personen in vielerlei Hinsicht identisch mit dem des Autors ist – fährt nach dieser frühen Bemerkung dann auch fort, sich mit der Ereignishaftigkeit des Geschehens auseinanderzusetzen. Das primäre Empfinden ist dabei eines der direkten Konfrontation. Im Angesicht der privaten Katastrophe bleibt dem Ehemann vorerst nur zu reagieren übrig. Was geschieht, ist nicht unbedingt sinnvoll, aber es geschieht, und die gegenwärtige Aufgabe besteht darin, weiterzumachen:

5.30h

[…] Es tut mir so weh (ja, es gibt einen kalten Schmerz), daß ich das alles wie ein manischer Buchhalter herschreibe. Inge ist müde und weinend ins Bett, sie muß heute 50 Kinder dressieren. Aber bald, so ab 21.00h, wird sie die glücklichste Frau der Welt sein. Was aus mir wird, überschaue ich nur vage, technisch. Vielleicht nehme ich mir spaßeshalber das Leben. Wie dem auch sei: Von jetzt an geht es weiter! Gott sei mit uns! ii

Die einzige Ordnung, die im Zustand des zerfallenden Familienlebens wirksam bleibt, ist die Zeit. Ihr unaufhaltsames „Weiter“ scheint dem emotional paralysierten Chronisten einen zwanghaften Takt zu geben, an den er sich halten kann und muss. „Das Leben geht weiter“ macht in Schmidts Buch den Schritt von der Phrase zur Tatsache und die Chronik ist die Form der Wahl, um mit dieser doch eigentlich leicht einsichtigen Erkenntnis zu Rande zu kommen.

Chronik der laufenden Leiden

Vieles in Ende einer Ehe ist typisch für Texte, die sich selbst den Titel einer „Chronik“ verleihen oder von Anderen so genannt werden. Formal ist ihr augenfälligstes Erkennungsmerkmal die serielle Struktur. Datierte Eintragungen mit teilweise sogar minutiösen Zeitangaben folgen unvermittelt wie Mini-Kapitel hintereinander und weisen außerhalb ihres zeitlichen Zusammenhangs keine inhärente Verbindung auf. Vom Tagebuch unterscheiden die Aufzeichnungen sich aufgrund ihres dezidiert dokumentarischen Charakters. Der Chronist möchte nicht wie im diaristischen Journal üblich reflektierend ins Selbstgespräch gehen, sondern vorrangig festhalten wie ihm im Strudel der Ereignisse geschieht. Dieser empirischen Intention nach werden in den Protokollen auch Briefe, Postkarten, Gedichte und einmal sogar eine Zeichnung der Kinder montiert. Abstrahieren die Leser:innen hier versuchsweise von der Buchform ist das Ende einer Ehe vorstellbar als ein privates Sammelsurium von Dokumenten. Entsprechend intim und voyeuristisch wirkt mitunter auch ihr Inhalt, wenn Inge von sich anbahnenden Geschlechtskrankheiten berichtet, der Ehemann in Alkohol unterstützte Depressionen verfällt oder den Beobachter:innen dieses Eheendes schlichtweg nicht klar ist, um was es eigentlich gerade geht. Denn der gelegentliche Hermetismus des Beschriebenen geht einher mit dessen persönlicher Natur, die nur der betroffenen Familie selbst ganz klar ist.

Ein Gefühl von Echtheit, von „Dabeisein“ vermittelt der subjektive Anstrich des Textes, der bei literarischen Arbeiten dieser Art häufig zu beobachten ist. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen verhandelt Schmidts Buch auch Überpersönliches und will im Spiel mit Authentizität und Fiktion durchaus exemplarisch für eine Generation sein:

1. August 1977 16.00h

[…] Der Partner, der den anderen verläßt, aus welchen Gründen immer, kann zurückkehren, solange der Verlassene hofft. Partner, die eine Denkpause wünschen oder die Austreibung eines Konflikts durch räumliche Trennung, können wieder zusammenfinden. In Konstellationen wie der unsrigen haben die Betroffenen kaum eine Chance.
Hier bleibt keine hilflose Hausfrau mit kleinen Kindern sitzen, sondern es obsiegt eine zu günstigen Bedingungen Berufstätige, Kommanditistin, Hausbesitzern inmitten einer intakten, sie entlastenden Sozietät, eine Frau im besten Alter mit einem durch ihre Entscheidung erneuerten und vermehrten Selbstbewußtsein […] iii

Das neuartige geschlechtliche Rollenverständnis, das sich mit dem vollziehenden Ehebruch manifestiert, stellt der Klappentext dann auch als Teil von „Fragen einer Generation“ aus, in der Frauen erstmals beginnen würden „die für sie errichteten privaten Postamente umzustürzen, um frei und gefährlich zu leben“. Schmidts „Fall“ stehe dabei „für die vielen kommenden Desaster“ und wer „sich einrichten will, liest das Buch beizeiten“. So eindeutig im Text zu entdecken ist eine an die aufrührerische Ehefrau adressierte Schuldzuweisung allerdings nicht. Zwar formuliert er Passagen, die Inge unmissverständlich verantwortlich machen, doch der Chronist sieht auch sein eigenes vergangenes Verhalten im Zusammenhang der Krise. Erklären kann er freilich noch nichts und seine Versuche dazu bleiben daher auch erst einmal nur das: Versuche.

Minimalkonsens all dessen scheint immer wieder zu sein: Die Ehe zwischen zwei Individuen ist ein fragiles Gebilde und die Sicherheit, die sie gibt, nicht zuletzt eine Illusion der Gewohnheit. Mit welcher unheimlichen Radikalität persönliche Bedürfnisse sich mitunter Bahn brechen können, um das einst feste Terrain „erdbebengleich“ zu erschüttern, ist eine der wenigen Erkenntnisse, die der Ehemann während der Krise unzweifelhaft einsehen kann.

Erzählerische Fragmente

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist nicht nur der Wechsel von erzählerischen und chronistischen Elementen als solcher interessant, sondern dass diese Variation auch vom einleitenden Klappentext bewusst wie eine differente Struktur eingeführt wird:

In zehn erzählerischen Episoden, die in die Chronik dieses „Endens einer Ehe“ eingebettet sind, wird der Versuch gewagt, zu rekonstruieren und zu entwerfen, „wie es zwischen ihr und dem anderen ist“. In diesen, gegen sich und „sie“ mitleidlosen Szenen offenbaren sich Sinn und Sein dieser privaten banalen Tragödie als dem Psychodrama.

Dass erst die kleinen erzählten Geschichten, die Imaginationen des Ehemanns also, den faktischen Reichtum der Chronik um „Sinn und Sein“ erweitern, liest sich abermals wie ein typischer Ausdruck für das allgemeine Verständnis der Formen. Wo das Chronistische vorrangig Empirie, Material und rohes Leben unterschiedslos und antihierarchisch versammelt, setzt die Erzählung mit synthetischen Ganzheitsansprüchen an. Doch Schmidts Aufzeichnungen machen eigentlich ein Statement, das aus einer etwas anderen, nämlich fatalistischen Richtung kommt: Was geschieht, hat seinen Sinn vor allem darin, dass es geschieht und zur Reaktion herausfordert. Erklärungen sind höchstens Strategien der Kompensation aber sie nehmen den Ereignissen nicht die Gewalt ihrer Faktizität.

Am Ende des Buches scheint der Chronist zumindest teilweise zu begreifen, was passiert ist. Macht es das leichter? Ein eindeutige Antwort erhalten die Leser:innen nicht aber hoffnungsvoll wirkt der Schluss in dieser Hinsicht kaum. Als vermeintliches Exemplar seiner Generation ist der Ehemann geschlagen mit einem Schicksal, das letztlich irgendwie natürlich wirkt, Resultat außerpersönlicher Umstände, der Zeit also, ist und rational kaum aufzuhalten war. Die Chronik spiegelt das formal, indem ihr einziger größerer Zusammenhang auch nur jene Zeit ist, in der sich notgedrungen alles abzuspielen hat. So nüchtern wie diese Erkenntnis gibt sich auch die Fortsetzung des Buches, die Schmidt schlicht Danach genannt hat.


i Uve Schmidt: Ende einer Ehe. Und: Danach, Kinder einer Ehe. Berlin/Jossa 1980, S. 41.
ii Ebd., S. 66.
iii Ebd., S. 100.