Vibrierende Zeiten

Eigentlich wollte Virginia Woolf eine ‚essay-novel‘ mit dem Titel The Pargiters schreiben. Aus diesem Vorhaben sind schließlich zwei Bücher hervorgegangen: Die 1937 erschienene Familienchronik The Years sowie der ein Jahr später publizierte Essayband Three Guineas. In The Years geht es um die Frage, wie Erinnern funktioniert, und auf welche Weise das Vergehen von Zeit dargestellt werden kann. Der Roman ist der letzte zu Woolfs Lebzeiten publizierte.

Virgina Woolf: The Years. Hogarth Press 1937, London. Quelle

Vibrierende Zeiten

von Johanna-Charlotte Horst

The Years erzählt die Geschichte einer Londoner Familie zwischen 1880 und der Mitte der 1930er Jahre. Die elf Kapitel des Romans beschreiben aus verschiedenen Perspektiven jeweils einen Tag eines bestimmten Jahres. Die jeweilige Jahreszahl dient dabei als Kapitelüberschrift. Das letzte Kapitel ist mit keiner Jahreszahl, sondern mit „Present Day“ überschrieben. Da der Text 1937 erschien, ist anzunehmen, dass das letzte Kapitel 1937 oder 1936 spielt. Damit ist die erzählte Zeitspanne fast deckungsgleich mit den Lebensdaten der Autorin, die 1882 geboren wurde und sich 1941 umbrachte.

Jahre

In The Years beginnt jedes Kapitel mit einer Wetterlage bzw. mit der Beschreibung einer Jahreszeit. So findet sich zum Beispiel am Anfang des Kapitels „1914“ folgende meteorologische Skizze:

It was a brilliant spring; the day was radiant. Even the air seemed to have a burr in it, as it touched the tree tops; it vibrated, it rippled. The leaves were sharp and green. In the country old church clocks rasped out the hour; the rusty sound went over fields that were red with clover, and up went the rooks as if flung by the bells. Round they wheeled; then settled on the tree tops.
In London all was gallant and strident; the Season was beginning; horns hooted; the traffic roared; flags flew taut as trout in a stream. And from all the spires of all the London churches – the fashionable saints of Mayfair, the dowdy saints of Kensington, the hoary saints of the city – the hour was proclaimed. The air over London seemed a rough sea of sound through which circles travelled. But the clocks were irregular, as if the saints themselves were divided. There were pauses, silences. …Then the clocks struck again.i

In diesem Auftakt überblenden sich verschiedene Zeitlichkeiten. Neben der Jahreszeit – „It was a brilliant spring” – spielt die Stundeneinheit eine zentrale Rolle. Auf unterschiedliche Weisen bringt der Glockenschlag zur vollen Stunde das Leben auf dem Land sowie in der Stadt zum Vibrieren. Die regelmäßige Einteilung des Tages in sechzig-Minuten-Einheiten ist dabei nicht nur Struktur gebend, sondern sorgt auch für Verwirrung. So läuten etwa die Glocken in London nicht alle exakt zum gleichen Zeitpunkt, sondern versetzt. Dadurch entstehen nicht nur Unterbrechungen in der dargestellten Geräuschkulisse, sondern auch im Text selbst, der an dieser Stelle das Beschriebene mit Auslassungspunkten typografisch reproduziert: „There were pauses, silences. …Then the clocks struck again.”

In ihrem Essay „Modern Fiction“ von 1925 fordert Woolf, den Blick auf die Wirklichkeit als vibrierendes Gefüge zu richten. Die Literatur verliere ihren Sinn, wenn sie sich nicht auf die Suche nach dem Leben, dem „essential thing“ii, mache. Bloßes Protokollieren des Gegebenen, wie man es bei zeitgenössischen realistischen Schriftstellern vorfinde, reiche nicht. Man müsse sich vielmehr der fluiden Erscheinungsweise des modernen Lebens zuwenden und die alten literarischen Formen als „ill-fitting vestments“iii aussortieren. Damit verschreibt sich die Autorin einer Schreibform, die sich das Einfangen des Flüchtigen und die Erprobung neuer Darstellungsmodi zur Aufgabe macht.

So kombiniert Woolf in The Years verschiedene zeitliche Ordnungen miteinander. Jahreszahlen und Jahreszeiten werden zwar als strukturierende Koordinaten verwendet, folgen dabei aber weder der aufsteigenden Linearität der ersteren noch der Zyklik der zweiteren. Auf ein Kapitel im Winter folgt nicht unbedingt eines im Frühling. Auch die Jahresabstände zwischen den Kapiteln variieren und sind alles andere als vorhersehbar. Auf diese Weise wird eine Kontinuität angedeutet und zugleich durch zeitliche Lücken fragmentiert.

Neben den Jahreszahlen geben auch sporadische Erwähnung einzelner Geschehnisse der politischen Ereignisgeschichte eine historische Orientierung. Allerdings kommt diese immer nur dann zur Sprache, wenn einer ihrer männlichen Protagonisten stirbt. So wird im Jahr 1891 ausgerufen: „Parnell is dead!“iv und 1910: „The King is dead!“v Beide Male bleiben die Ausrufe für den Handlungsverlauf ohne Resonanz. Denn wie in fast allen Romanen Woolfs, etwa in Mrs. Dalloway, The Waves oder To the Lighthouse, ist die Protagonistin des Textes eine Familie.

Familienalbum

Die Geschichte der Familie Pargiter wird als Chronik einzelner, kaum miteinander zusammenhängender Szenen erzählt. Diese fragmentierende Erzählweise ist nicht ohne die Verbreitung des Fotoapparats denkbar. 1888 kommt die Kodak Nr. 1 in die Läden. Sie ist handlicher als ältere Kameras, denn die Belichtungsplatten sind durch Rollfilme ersetzt, deren Entwicklung die Firma Kodak für den Kunden übernimmt. In immer mehr Privathaushalten wird nun ein Fotoapparat angeschafft, sodass sich das Fotografieren als fester Bestandteil familiärer Erinnerungspraktiken etabliert.
Auch Woolf legte ein Familienalbum an. Sie fotografierte fast ausschließlich beiläufige Szenen, ihr Album stellt somit als eine Sammlung von Schnappschüssen dar. Auf einem Bild sieht man Freunde, die im Garten Schach spielen, ohne zu bemerken, dass sie fotografiert werden. Auf einem anderen ist eine Katze abgelichtet, die zu Füßen einer Frau liegt, deren Oberkörper abgeschnitten ist.

Marjorie Strachey und Lytton Strachey spielen Schachvi
Katze und Beine vii

Diese Ästhetik ist  für die Poetik von Woolfs literarischen Texten nicht zu unterschätzen. Auch wenn von konkreten Fotografien in The Years kaum die Rede ist, dienen sie immer wieder als Metaphern des Erinnerns. Während ein Onkel Geschichten von früher erzählt, kommt es einer der Protagonistinnen so vor, als ob vor ihrem inneren Auge Schnappschüsse aus dem Familienarchiv vorbeizögen:

He was off telling his old stories. Gently, methodically, like a man setting in motion some still serviceable but rather weary nag he was off remembering old days, old dogs, old memories that slowly shaped themselves, as he warmed, into little figures of country house life. She fancied as she half listened that she was looking at a faded snapshot of cricketers; of shooting parties on the many steps of some country mansion.viii

Die Erinnerungsfähigkeit wird hier als eine Art veraltete Apparatur vorgestellt, die erst einmal in Fahrt kommen muss, um Bilder aus der Vergangenheit zu reproduzieren. Diese stellen sich nicht als Momentaufnahmen schwergewichtiger Familienereignisse heraus, sondern als Schnappschüsse vom Alltagsleben auf dem Land.

Beliebige Augenblicke

In ihrem Tagebuch behauptet Woolf, „one only remembers what is exceptional.”ix Im gleichen Atemzug stellt sie fest: „there seems to be no reason why one thing is exceptional and another not.“x Wenn alles gleichermaßen außergewöhnlich ist, dann muss sich auch das Gewöhnliche erinnern lassen. Damit sind die Ereignisse in ihrer Erinnerungswürdigkeit enthierarchisiert. In diesem Sinn weist Erich Auerbach den beliebigen Augenblick als Ausgangspunkt für Woolfs literarisches Schreiben aus. „[D]urch keine Absicht beschränkt“, überlasse Woolf sich beim Schreiben „der beliebigen Zufälligkeit des Wirklichen“.xi Das Ergebnis von Auerbachs Woolf-Lektüre lässt sich als Indiz für eine chronistische Schreibweise begreifen. Schließlich fällt mit der Poetik des beliebigen Augenblicks ein übergreifender Sinnhorizont weg, der das Ganze in ein sinnvolles Ganzes einbetten würde.

Was das bedeutet, lässt sich besonders prägnant im letzten Kapitel von The Years beobachten. Darin wird von einem Familienfest berichtet. In unterschiedlichen Gesprächskonstellationen erinnern die Familienmitglieder ihre gemeinsame Vergangenheit. Sie fallen sich ständig ins Wort, verlieren den Faden oder missverstehen sich. Daraus entsteht ein mehrstimmiges Rauschen, in dem Erinnerungsfragmente aufeinanderstoßen. Wie wenig sich diese zu einer narrativen Schließung fügen, wird in einer poetologischen Miniatur reflektiert: North, einer der jüngeren Pargiters, ist gerade von einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt. Er fühlt sich fremd unter seinen Verwandten. Von vielen wird er erst auf den zweiten Blick erkannt. Als North auf seine Cousine trifft, bemerkt er, wie sie mühsam versucht, zu erinnern, wer vor ihr steht. Als ob sie ein jüngeres Gesicht von ihm abgespeichert habe und es nun mit seinem gealterten in Verbindung zu bringen versuche:

This half knowing people, this half being known, this feeling of the eye on the flesh, like a fly crawling – how uncomfortable it was, he thought; but inevitable, after all these years.xii

Das mühsame Sich-in-Erinnerung-Rufen wird hier durch eine Fliege visualisiert, die so störend über die Haut krabbelt wie der im Erinnern begriffene Blick. Die Erinnernde hat nicht das Ganze im Blick, sondern muss die Vergangenheit aus Einzelstücken zusammensetzen. Zwei Seiten später taucht die Fliegen-Metapher in North’ Gedanken erneut auf:

These little snapshot pictures of people left much to be desired, these little surface pictures that one made, like a fly crawling over a face, and feeling, here’s the nose, here’s the brow.xiii

Wer wie die Cousine erinnert, fördert also nichts anderes als Schnappschuss-artige Erinnerungsbilder zu Tage. Wie die Schnappschüsse in Woolfs Fotoalbum figuriert das Erinnerte dabei als eine Reihe miteinander unverbundener Einzelteile. Deren Aufrufen evoziert nicht eine in sich abgeschlossene Welt, sondern bringt lediglich isolierte Szenen einer Vergangenheit an die Oberfläche des Bewusstseins. Als zufällige Momentaufnahmen stellen sie keine verdichteten Embleme dar, denen das Ganze einer Geschichte entnommen werden könnte. Aus ihrer additiven Aneinanderreihung entsteht vielmehr ein chronistisches Ensemble beliebiger Augenblicke.



i Woolf, Virginia, The Years, New York/London/San Diego: Harcourt, 1965 [1937], 224.
ii Woolf, Virginia, „Modern Fiction“, in: The Common Reader, hg. v. Andrew McNeillie, London: Harcourt, 1925, 149.
iii Ebd.
iv Woolf, The Years, 113.
v Ebd., 191.
vi1938/ Virginia Woolf Monk’s House photograph album (MH-4), Harvart Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Mass., https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:17948758$7i [Zuletzt aufgerufen am 19.08.2023]
vii 1947/Virginia Woolf Monk’s House photograph album (MH-4), Harvart Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Mass., https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:17948758$62i [Zuletzt aufgerufen am 19.08.2023]
viii Woolf, The Years, 352.
ix Woolf, Virginia, „A Sketch of the Past“, in: Dies.: Moments of being, hg. v. Jeanne Schulkind, London/ New York/ San Diego: Harcourt, 1985 [1976], 69f.
x Ebd.
xi Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/Basel: Francke, 2001 [1946], 500.
xii Woolf, The Years, 313.
xiii Ebd., 317.