Aus dem Leben schöpfen

Biographien erzählen die vielfältigen Stationen und Stadien eines Lebens, Chroniken sammeln sie. Wo die eine Schreibweise sinnhaft Zusammenhänge stiftet, präsentiert die andere einen neutral erscheinenden Wissensspeicher. Mitunter ist die Entscheidung für eine Form der Darstellung also auch eine Frage der intendierten Perspektive. Wie soll ein (meist fremdes) Leben zur Anschauung gebracht werden? Reiner Stach hat mit seiner mehrbändigen Kafka-Biographie sowie der Chronik Kafka von Tag zu Tag beide Varianten erprobt.

Aus dem Leben schöpfen: Kafka von Tag zu Tag

von Leon Bertz

Sie gehört wohl zu den geläufigsten Mini-Anekdoten der Literaturgeschichte und einer Reihe geflügelter Worte mit Interpretationspotential: Franz Kafkas lakonische Tagebucheintragung vom 2. August 1914 „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule“ hielt nicht selten als Indiz für die vermeintlich isolierte Emotionalität des Autors her. Dass die Bemerkung in einer Phase höchster Verdichtung von gesellschaftlichen, psychischen und schöpferischen Ereignissen fällt, rückt ihre emblematische Wirkung allerdings in relativierende Zusammenhänge. Eine Lektüre in Reiner Stachs Chronik Kafka von Tag zu Tag gibt Hinweise auf die vielfältigen Wechselspiele zwischen Zeitgeschichte und Individualbiographie.

Der Mensch in seiner Zeit

Die ungeheure Geschwindigkeit mancher Prozesse, denen schon zeitgenössisch das Prädikat „historisch“ kollektiv zweifelsfrei verliehen wird, lässt interessierte Beobachter:innen der Zukunft gelegentlich taumeln. Kaskadenartige Verschiebungen ehemals stabiler Ordnungen wehen schon aus Geschichtsbüchern mit einer gewissen Unheimlichkeit herüber - für die Zeitgenoss:innen jener Entwicklungen entfalteten sie aber ganz reale lebenspraktische Umschwünge.

Als der kompliziert erhaltene europäische Frieden zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Sommer 1914 nach der Ermordung Franz Ferdinands am 28. Juni innerhalb von zwei Monaten wie ein Gebilde aus Dominosteinen in sich zusammenbrach, war die Situation für Kafka ohnehin schon durch erhebliche Spannungen privater Natur belastet. Nachdem es am 12. Juli zum „Gerichtshof im Hotel“ Askanischer Hof in Berlin kam, bei der sich K. und Felice Bauer nach ihrer berühmten dysfunktionalen Verlobungsphase schließlich entlobten, verdunkelten „Depression und Schlaflosigkeit“ Kafka die warmen Tage des Jahres 1914. Der Literaturwissenschaft ist diese Phase leidlich bekannt, vermag sie doch die biographische Steilvorlage für die juristischen Schuldmetaphern des bald entstehenden Processes zu liefern. Und sicher bietet eine isolierte Betrachtung dieses Heiratsgerichtes auch Nahrung für solcherart individualistisch lesende Interpretationsweisen - nur ist das eben im buchstäblichen Wortsinn nicht die „ganze Geschichte“. Regulativ wirkt hier der Blick in die Chronik. Mit augenscheinlich erheblichem Aufwand hat Reiner Stach in synoptischer Kleinstarbeit private und globale Ereignisse, Mikro- und Makrogeschichte eines Lebens von 1883 bis 1924 protokolliert. Die chronologische Darstellung ermöglicht, das Dasein Franz Kafkas auf besondere Weise zu lesen: Auch wenn der historische-zeitliche Zusammenhang zwischen Sarajevo-Attentat und Askanischer Gerichtshof intellektuell bewusst sein mag, ihre Nähe zueinander wird in der chronistischen Abfolge in anderer Form greifbar.

Mitte Juli 1914 scheint die Resonanzachse zwischen europäischer Katastrophe und privater Misere bei Kafka zwar noch nicht sonderlich zu schwingen, mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28.07 - der Beginn des ersten Weltkrieges - ist die gegenseitige Beeinflussung aber nicht mehr zu übersehen. Drei Tage später werden im Zuge der Generalmobilmachung die Schwager Kafkas einberufen - die ersten Freunde folgen bald. Am 31. Juli notiert Kafka: „ich bin wenig berührt von allem Elend und entschlossener als jemals“, er wolle schreiben „trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um Selbsterhaltung“ i. Schreiben und Selbsterhaltung: Der Komplex scheint in der rasanten Abfolge lebensverändernder persönlicher und gesellschaftlicher Ereignisse mit besonderer Relevanz aufgeladen zu werden. Nötig wirkt das auch angesichts der kommenden Tage, die Stach minutiös chronologisiert (hier gekürzt und selektiert wiedergegeben):

01. August: [...] 19.10 Uhr: Kriegserklärung Deutschlands an Russland.

02. August: [...] Kurt Wolff (Kafkas Verleger, LB) wird vom Militär eingezogen.

04. August: [...] Prager Cafés und Nachtlokale sind ab heute um 24 Uhr zu schließen.

05. August: [...] Ab 24 Uhr nahezu völlige Einstellung des zivilen Bahnverkehrs in Österreich Ungarn.

06. August: [...] Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland.

10. August: Kriegserklärung Frankreichs an Österreich-Ungarn

12. August: [...] Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn. Beginn des österreichischen Angriffs gegen Serbien.

24. August: Die österreichisch-ungarische Armee muss sich unter schweren Verlusten aus Serbien zurückziehen. ii

Natürlich bleibt die äußere Dynamik für Kafka nicht unsichtbar. Am 05.08 notiert er einen „Neid und Hass gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles Böse wünsche“ iii, während des 06.08. beobachtet er Truppen- und Kriegsgerätbewegungen durch die Altstadt, „widerlichst[e] Begleiterscheinungen des Krieges“, denen er mit „meinem bösen Blick“ beiwohnt iv und am 13. September schließlich ist er gar „traurig über die Niederlagen der österreichischen Armee“, hat „Angst vor der Zukunft“ und wird „zerfressen von Gedanken an den Krieg“ v.
Gleichzeitig - und diese Gleichzeitigkeit ist es, die die chronistische Aufbereitung spürbar zugänglich macht - erlebt Kafka eine seltene Phase enormer Produktivität. Der 11. August markiert (wahrscheinlich) den Beginn der Process Niederschrift, am 15.08 ist er zufrieden mit der bisherigen Arbeit und beginnt sogar eine weitere Erzählung: Erinnerungen an die Kaldabahn. Viele Process Kapitel entstehen in den kommenden Tagen, auch Der Verschollene wird fortgesetzt und das Geschriebene dann bereits im September dem Freund Brod präsentiert.

Wie schreibt man ein Leben?

Derartige Episoden der Schöpfungskraft sind in Kafkas Empfinden auf eine Weise rar, dass ihr Auftreten im Netz historischer Beschleunigung und privater Umbrüche besonderes Augenmerk verdient: Eine Antithese zur Traditionslinie psychologistisch-individualisierender Deutungen. Das besondere Erkenntnispotential der Chronik dabei betont Reiner Stach:

Das Leben eines Menschen verläuft ja niemals in einer Abfolge von Ereignissen, die sich auf einem Zeitstrahl ordentlich auftragen ließen. Vielmehr hat man es stets mit einem vieldimensionalen Geflecht zu tun, mit Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Rollen eines Menschen, zwischen Intimem und Öffentlichem, Bewusstem und Unbewusstem, Gedachtem und Gefühltem, Erinnertem und Vergessenem, Zufälligem und Notwendigem. Wollte man dieses Geflecht in einer Biographie vollständig abbilden, so müsste man ein Leben Minute für Minute erzählen, in synoptischer Form, einschließlich aller Gleichzeitigkeiten. [...] Wie sich zeigte, war tatsächlich eine möglichst genaue Chronik aller Ereignisse und Dokumente das beste Instrument, um solche Überlagerungen im Auge zu behalten; eine Chronik von Tag zu Tag, die nicht nur Kafkas eigene Äußerungen berücksichtigte, sondern ebenso alles, was von außen auf ihn eindrang. vi

Nun entstehen durch die Wahl der Chronik als Darstellungsform eines Lebens spezifische Effekte. Der Vorrang des „sinnlichen Materials“ vii unterminiert thematische Differenzierungen, über weite Phasen eines Lebens aufeinander bezogene Ereignisse verwischen sich im Detail, die Chronologie gewinnt Vorrang gegenüber der Meta-Ordnung von Geschehnissen. Dem Ziel biographischer Lesbarkeit tut das laut Stach erheblichen Abbruch:

Um dem entgegenzuwirken, ist der Biograph darauf angewiesen, eine Struktur zu schaffen. Er wird Kapitel schreiben, die sich auf wenige oder ein einziges Thema konzentrieren, er wird Nebenmotive und Nebenfiguren eine Zeitlang oder sogar dauerhaft unterdrücken, er wird rote Fäden auslegen, und er wird es mit Vor- und Rückblenden, Wiederholungen und Zusammenfassungen dem Leser etwas leichter machen, den Überblick zu behalten. viii

Anders gesprochen: die Biographie narrativiert. Sie entwickelt Muster, Komplexe, Bezugnahmen und Vereinfachungen. Dass dabei zu einem nicht unwesentlichen Teil auch konstruiert wird, ist das Eingeständnis das dem interpretativen Modus verdichtender Lebensdarstellung gemacht werden muss - belohnt wird es mit der Klarheit der Abbildung. Zusammenfassung und Protokoll bilden insofern die differenten Grundlagen konträrer Schreibweisen:

Biographie und Chronik sind zwei radikal unterschiedliche, in gewissem Sinn sogar entgegengesetzte Formen, um ein gelebtes Leben abzubilden. Ihre Probleme und Schwächen verhalten sich spiegelbildlich: Während beim biographischen Erzählen jedes Ereignis einem bestimmten Thema, einem Kontext, zumeist also einem sachlich fokussierten Kapitel zugeordnet werden sollte - andernfalls wären zahllose Wiederholungen in Kauf zu nehmen -, löst die Chronik thematische Verbindungen auf und reduziert alles auf eine geordnete Abfolge von Ereignissen. ix

Mit der Intention der Darstellung variiert also auch die Wahl der Form. Wer ein Leben verständlich machen will, wählt die narrative Geschlossenheit der Biographie, wer es sinnlich öffnen möchte, die Chronik. Für Stach ist letztere an dieser Stelle vorgängig, sie bildet den noch ungeschliffenen „Rohstoff“ aus dem das biographische Schreiben schöpft und sich entwickelt x. Solche chronistische Unvollkommenheit zeugt hier aber nicht von normativer Minderwertigkeit, sondern konstituiert erst einen speziellen Zugang: „Sie ermöglicht [...] dem Leser einen Wechsel der Perspektive und damit auch eigene Entdeckungen, vor allem solche, die sich aus verblüffenden zeitlichen Nachbarschaften vergeben“ xi. Chroniken lesen bedeutet mithin keine Zielfahrt auf Einbahnstraßen: Wie eine mehrdimensionale Raumbegehung entfaltet sich der Effekt offener Lektüre, deren Gegenstand seine Einladung zu „historischen“ Erkundungstouren mitteilt. Kafkas Verwicklung in die europäische Geschichte des Jahres 1914 ist dabei nur ein Einstiegspunkt; zu ihm gesellt sich die ganze fast unübersehbare Komplexität eines Lebens, dem sich das biographische Interesse mit entdeckerischer Neugier immer wieder annähern kann.


i Reiner Stach: Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse. Frankfurt a. M. 2017. S. 287.
ii Ebd., S. 288 ff.
iii Ebd., S. 288.
iv Ebd., S. 289.
v Ebd., S. 291.
vi Ebd., S. 11 f.
vii Ebd., S. 15.
viii Ebd., S. 11.
ix Ebd., S. 14.
x Ebd., S. 13.
xi Ebd., S. 15 f.