Wendezeiten zwischen Faxgeräten und Graffitis

Martin Grossʼ Buch Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land ist buchstäblich eine literarische Entdeckung: Erstmals 1992 erschienen, hat der Verlag Spector Books mehr als ein Jahr nach dem Autor gesucht, um das Buch in einer Neuauflage (2020) wieder zugänglich zu machen.
An Alltagsszenen, kleinen Details und zufälligen Beobachtungen spürt Gross die historischen Umbrüche und sozialen sowie individuellen Versuche der Neuorientierung in der Wendezeit 1989/90 auf. Zugleich stellt er immer wieder auch die Frage, wie solche zeitgeschichtlichen Zäsuren überhaupt dokumentiert und literarisch erzählt werden können.

Wendezeiten zwischen Faxgeräten und Graffitis

von Kevin Drews

Seit den frühen 2000ern haben Wende- und Nachwende-Romane nahezu ununterbrochen Konjunktur. Martin Grossʼ Buch stellt einen besonderen Fall dar. Es handelt sich um einen hochgradig hybriden Text, der feste Gattungszuschreibungen unterläuft: In ihm verflechten sich Formen des Essays, des Briefromans, des Journals, des Tagebuchs, der Reportage und des Feuilletons. Dadurch wird das Buch gleichzeitig als literarischer Text, zeitgeschichtliches Dokument und journalistisches Schreibexperiment lesbar.

Flüchtige Augenblicke, verwickelte Zeiten

Der nur mäßig erfolgreiche westdeutsche Schriftsteller Martin Gross zieht im Januar 1990 für ein Jahr nach Dresden. Im Umfeld seiner ostdeutschen Verwandtschaft versucht er mittels Interviews, ziellosem Herumstreifen durch die Stadt und zufälligen Alltagsbeobachtungen die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung zu protokollieren und die Auswirkungen zeitgeschichtlicher Zäsuren im alltäglichen Erfahrungsraum zu vergegenwärtigen. In den täglichen Aufzeichnungen wird die Zeit als eine Art ‚historische Leerstelle‘ erfahrbar, eine eigentümliche Schwellenzeit eines Landes zwischen seiner bereits ungültig gewordenen Vergangenheit und einer noch zukünftigen Gesellschaftsordnung, die sich überall ankündigt, aber zunächst nur langsam Fahrtgeschwindigkeit aufnimmt:

Wer in dieses Land fährt, reist nicht allein. […] ich weiß, dass auch andere herüberkommen werden. Zuerst einmal werden sie klarstellen, in welcher Zeit wir uns eigentlich befinden, denn sie wollen Geschäfte machen, und Geschäfte macht man nur auf der Spitze der Zeit. Sonst könnte man ja den ganzen Osten für die Erinnerung reservieren, für Psychotherapien aller Art, und für die Suche nach der verlorenen Zeit. Man wird also die Uhren stellen und die Schreibtische ausräumen. Aber später erst, jetzt noch nicht. Heute, für einen kurzen Augenblick vor dem Einmarsch der Baukolonnen, fährst du durch ein Land ohne Gegenwart. i

Aufmerksam registriert und reflektiert der Autor den intermittierenden Prozess des Historisch-Werdens, die diffusen Verwicklungen von Vergangenheit und Zukunft. Es sind die zufälligen Begegnungen, die ziellosen Irrfahrten in der Stadt, durch die uns en passant die gesellschaftlichen Transformationsprozesse an kleinen alltäglichen Details vor Augen geführt werden. Hoffnungen, Wünsche, aber auch Zweifel und Verwerfungen in dem allmählichen Prozess des Verschwindens werden hier nicht entlang der politischen Ereignisgeschichte erzählt, sondern in einem plötzlich auftauchenden Graffiti oder einem defekten Faxgerät greifbar.

Verspätete Schreibszenen, verzögerte Notate

Die Suche nach Spuren der großen zeitgeschichtlichen Zäsuren in kleinen Details stoßen den Autor wiederholt auf eine irritierende Diskrepanz: Auf der einen Seite die weltgeschichtliche Bedeutung der historischen Ereignisse, auf der anderen Seite der relativ geräuschlose Übergang in den neuen politischen, sozialen und ökonomischen Alltag. Hektisch, manchmal beinah wütend sucht er nach Begegnungen und Geschehnissen, an denen der enorme Anpassungsdruck an die neuen gesellschaftlichen Realitäten ablesbar wird, fahndet nach Situationen gescheiteter oder verzögerter Synchronisierung mit der neunen Zeit. Dabei muss er zuallererst konstatieren, dass er als Beobachter der relativ ereignislosen Zwischenzeit selbst ein Spätling ist, ein leicht verspäteter Chronist:

Ich habe es ja schon gesagt: am Zusammenbruch dieses Staates ist nicht viel zu beobachten. Der politische Aufbruch ist bereits Erinnerung geworden, während ich mich noch zu Hause auf ihn vorbereitet habe. Mit spektakulären Ereignissen habe ich ja nicht wirklich gerechnet, aber dass der Zerfall einer Ordnung so ungeheuer ordentlich vor sich geht, das hätte ich nicht erwartet. Der eigentliche Bruch geschah im vergangenen Herbst, das war schon alles. Was danach kam, war keine Umwälzung, es war das Warten auf den Westen. ii

Zeitgeschichte und ihre literarische Vertextung wollen hier offenbar nicht problemlos zur Deckung kommen. Das macht der Text selbst zum Gegenstand, indem er zeigt, wie im Laufe des Jahres unterschiedliche Zeitregime aufeinanderprallen. Der chronistische Schreibimpuls liegt darin, der zeitgeschichtlichen Erfahrung der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ zwischen marktwirtschaftlichen Beschleunigungsmechanismen, Restbeständen alter staatlicher Organisationsformen, lang eingeübten Verhaltensweisen und neuen Freiheiten einen literarischen Ausdruck zu geben. Im Eintrag vom 18. April 1990 notiert der Autor eine Art von ‚geschichtsphilosophischer‘ Zeitreflexion, die er zum poetologischen Fundament seiner Aufzeichnungen ausbaut:

Es ist, als begegneten sich für einen Augenblick die erste und die zweite Jahrhunderthälfte. Das ist kein Anlass zur Nostalgie, sondern ein einmaliges Experiment: Da werden verschiedene Epochen zusammengeschaltet, und der Betrachter hat nichts weiter zu tun, als die flüchtigen Farben und Formen zu fixieren. Was sich da abspielt, gleicht einem archäologischen Ereignis: Man öffnet die Katakomben, und für einen Augenblick liegen die Gestalten verschiedener Epochen fast lebensecht vor einem. Für Sekunden, während der einströmende Sauerstoff bereits an ihnen nagt, ist es möglich, ihnen ins Gesicht zu sehen. Schau sie dir an, wie sie sich unter diesem Zustrom verändern! iii

Die meist nur flüchtigen Einblicke in die historischen Transformationsprozesse korrespondieren in Grossʼ Aufzeichnungen mit dem ephemeren der eigenen Schreibbedingungen: „Immer habe ich den Eindruck, dass mir alles zwischen den Fingern zerrinnt, wenn ich es nicht sofort notiere.“ iv Mehrmals muss der Autor abends am Schreibtisch die Unzulänglichkeit der tagsüber schnell verfassten Notizen feststellen, da die angestrebte Vermittlung von Reportage, literarischer Fiktion und zeitgeschichtlicher Dokumentation nicht problemlos gelingt. Das liegt nicht zuletzt an der Geschwindigkeit des Bedeutungswandels der Wörter:

[…] eigentlich hatten sich in den letzten Monaten die Worte überall so rasend schnell verändert, nicht nur in den Zeitungen, nein, auch wenn man Brot kaufte oder einen Ausweis beantragte, sprechen sie sich anders […]. v

Die Aufzeichnungen dokumentieren wiederholt eine Spannung zwischen nachwirkenden Fragmenten ostdeutscher Sprachreglungen und dem eingeübten, aber sich mehrmals als untauglich erweisenden westdeutschen Wahrnehmungs- und Beschreibungsweisen des Autors. Die Suche nach einer geeigneten Sprache führt den Autor zur Frage nach den eigenen Notationsverfahren und der Form des entstehenden Buches.

Die Suche nach der Form

Parallel zur Beobachtung der Verschaltungen unterschiedlicher Zeiten verhandelt der Text durchgehend die Frage, wie unmittelbar erlebte Zeitgeschichte überhaupt literarisch dargestellt werden kann. Mehrmals folgen auf Passagen der Beobachtung alltäglicher Begebenheiten Abschnitte über die Rolle der eigenen Autorschaft, die Gross veranlassen, „übers Schreiben [zu] schreiben“ vi. Die grundlegende Frage besteht darin, wie aus der eigenen individuellen Beobachterposition eine präzise historische Darstellungsform zu destillieren ist:

Ich komme mir vor, als hätte ich mir in den Kopf gesetzt, am Nordpol das Wetter zu beobachten, ein Forscher auf vorgeschobenen Posten. Noch eine Weile muss er ausharren. Aber nein, das klingt viel zu logisch. Das Lächerliche an meiner Position ist ja, dass gar nichts davon abhängt, ob ich sie heute oder in ein paar Wochen räume. Eher gleiche ich einem Spinner, der sein Zelt nimmt und in den hohen Norden geht, weil er sich für einen Forscher hält. Dabei überträgt man die Daten ja ohnehin per Satellit. Wenn ich wenigstens genau wüsste, was mich interessiert. Aber nicht einmal das ist klar. Ich weiß nur, dass ich hier noch bleiben möchte. Immer nur zusehen! Aber warum? Ich renne durch die Stadt und finde alles irgendwie bezeichnend – aber was ist das bezeichnete Thema? Natürlich, die großen historischen Themen. Aber die wollen sich einfach nicht präzisieren. Sie verbinden sich nicht mir Details – oder umgekehrt. Auf dem langen Weg vom großen Thema zum kleinen Detail sprechen so viele Stimmen dazwischen. vii

Um die Vielstimmigkeit und die vielen kleinen Lebensausschnitte der Stadtbewohner einfangen zu können, zeichnet der Autor vom 5. Januar 1990 bis zum 20. Januar 1991 Tag für Tag simultan Erlebnisse und Erfahrungen ‚zwischen den Zeiten‘ auf. Die Orientierung am Tagesrhythmus bezeichnet er selbst als einen Rückgriff auf eine „altmodische Form“ viii. Es bleibt uneindeutig, welche Form Gross hier genau meint. Es liegt nahe, dass er sich auf das Tagebuchschreiben beruft, gleichzeitig haben die einzelnen Eintragungen aber auch den Charakter von Briefen, andere Eintragungen wiederum sind als kleine, in sich geschlossene Erzählungen oder als investigative Fortsetzungs-Reportagen lesbar. Festzustellen ist jedenfalls, dass durch die tagtäglichen Aufzeichnungen weniger eine kontinuierliche Geschichte als vielmehr ein Panorama des Nebeneinanders unterschiedlicher Begegnungen und Erfahrungen entsteht. Dabei erzeugt das heterogene Formarsenal, aus dem sich der Autor bedient, mehrere produktive Spannungen: Narrative Passagen mit exemplarischem Charakter wechseln sich mit eher protokollierenden Aufzählungen ab, der Blick auf die großen historischen Ereignisse folgt auf Detailbeschreibungen des alltäglichen Erfahrungsraums. In der Vermittlung zwischen der großen Geschichte und dem lokalen Alltag greifen die Aufzeichnung häufiger auf eine dem Film analoge Technik des ‚zoom-in‘ und ‚zoom-out‘ zurück. Manchmal wagt Gross eine historische Deutung, an anderen Stellen wiederum imaginiert er sich als eine Art von neutralem Aufschreibeapparat, der die historischen Ereignisse nicht ausdeutet, sondern bloß sammelt und archiviert. Auffällig sind auch die verschiedenen Selbstzuschreibungen: Abwechselnd bezeichnet er sich als Forscher, Archäologe oder Ethnologe, dann als Abenteurer oder als Undercover-Schriftsteller und Reporter.

Die Aufzeichnungen sind durchgehend an der Schwelle von Literatur und Historiographie angesiedelt. Der zeitgeschichtlich-dokumentarischen Schreibimpuls wird mit fiktiven Handlungselementen verknüpft, Figurenkonstellationen werden bisweilen verändert, Schauplätze werden verdichtet und Handlungsstränge ineinander gewoben. Deutlich wird dabei, dass eine besondere Herausforderung literarischer Zeitgeschichtsschreibung darin besteht, angemessene Kriterien zu finden, mit denen zwischen wichtigen und unwichtigen Details unterschieden werden kann. Denn bei der simultanen Notation unmittelbar erlebter Gegenwart bleibt stets ungewiss, was tatsächlich historische Relevanz hat. Mehrmals sucht Gross Orientierung in der Geschichte selbst, muss jedoch feststellen, dass für die Beschreibungen der ‚Zeit zwischen den Zeiten‘ die großen historischen Vergleiche mit anderen weltgeschichtlichen Ergebnissen kaum taugen:

Vermutlich werde ich mich von den großen Begriffen verabschieden müssen: Bastille, Winterpalais und so weiter. Offensichtlich weiß im entscheidenden Moment keiner, was er da eigentlich tut. Ja, man weiß nicht einmal, dass dies die Entscheidung ist; das liest man dann hinterher in der Presse. Oder noch später in den Geschichtsbüchern. ix

Oder aber, so ließe sich ergänzen: in literarischen Chroniken, eine ebenfalls scheinbar ‚altmodische Form‘, die aber vor allem in den Zwischenraum aus tagesaktuellen Ereignissen und nachträglichen historischen Einordnungen eine Form des historischen Wissens bereitstellen, das zwischen den Zeiten zu verorten ist, genauer: „einen Millimeter vor der Gegenwart.“ x


i Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land. Leipzig 2020, S. 16.
ii Ebd., S. 39.
iii Ebd., S. 119.
iv Ebd., S. 61.
v Ebd., S. 58.
vi Ebd., S. 38.
vii Ebd., S. 113.
viii Ebd., S. 15.
ix Ebd., S. 50.
x Ebd., S. 148.