Die Verborgene Chronik ist eine literarische Montage von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, die hundertzwanzig Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs collagiert zu einer chronistisch strukturierten, multiperspektivischen, ständig Schauplätze wechselnden Erzählung.
Publikationen, die Genregrenzen überschreiten, fordern heraus: Ist eine Weltkriegschronik, die hundert Jahre später aus Tagebucheinträgen zahlreicher Verfasserinnen und Verfasser komponiert wird, Literatur? Soll der Rezensent, die Leserin sich auf das historische Thema konzentrieren oder den kreativen Montageprozess mitreflektieren? Beziehungsweise anders gefragt: Was haben sich die Autoren bei ihrer Arbeit gedacht?
Das Gefühl, an epochalen Ereignissen teilzunehmen, bewegte viele Menschen dazu, ab Sommer 1914 eigene Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Tagebuchschreiben wurde zum Massenphänomen. Mit zunehmender Kriegsdauer motivierten das Bedürfnis nach Selbstdokumentation, der Wunsch, in einer unübersichtlichen Situation Kontrolle zurückzugewinnen, oder auch das Bewusstsein eigener Zeitzeugenschaft Soldaten und Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder zu Aufzeichnungen.
Der Bauer Karl Groppe aus Schoningen bei Uslar kämpfte Anfang 1915 als Gefreiter an der längst im Stellungskrieg festgefahrenen Westfront. Am 15. Februar, einem Montag, hielt er bei Reims in drastischen Worten fest:
Stand am Samstag morgens Posten im Schützengraben. Da ich Zeit und auch lange nicht geschrieben hatte, holte ich mein Tagebuch hervor und machte einige Notizen. Zufällig hatte mich unser Kommandeur dabei gesehen. Auf seinen Befehl musste mich unser Kompanieführer mit drei Tagen Arrest bestrafen. Ich verbüßte dieselben, indem ich vorgestern, gestern und heute je zwei Stunden an einen Pfahl gebunden wurde. Meine Kameraden waren empört über diese unwürdige Behandlung [...]. i
Verboten waren nicht nur private Beschäftigungen während des Dienstes, schon das Mitführen von Tagebüchern war Soldaten untersagt: Diese hätten bei Gefangennahme oder Verlust vom „Feind“ ausgewertet werden können. Für junge Mädchen aus bürgerlichen Kreisen war das Diarium wiederum fast schon verpflichtend. Die damals 17jährige Annemarie Haake aus Hamm besuchte im Winter 1914/15 das Töchterheim Elisabethenhaus in Kassel und berichtete am 26. Januar schwärmerisch unbeholfen:
Grad heute haben wir alle Tagebuchfieber. Ich möchte so gern schreiben und weiß doch nicht was. Ich bin heute wieder in meiner Stimmung, wie die eigentlich ist, weiß ich gar nicht, fast könnte ich sagen, es ist ein Gefühl wie Wehmut, so eine ganz sonderbare Sehnsucht nach etwas Unfassbarem, nach etwas Idealem,
Höherem. ii
Nicht einmal einen Monat zuvor am 27. Dezember hatte ihre 14jährige Schwester Milly Haake, die ihrem Tagebuch gerne wortgewandt die unerwiderte Liebe zu einem Mathematiklehrer gestand, in irritierendem Überschwang festgehalten:
Eine ganz neue Botschaft, liebes Tagebuch, habe ich dir heute zu melden. Etwas Aufregendes, etwas Erfreuliches und in gewissem Sinne etwas Bedauerliches. […] Denk dir, was glaubst du, was sagste, unser Junge liegt, leicht am rechten Arm durch einen Granatsplitter verwundet, in Bromberg im Lazarett [...]. iii
Um dann am 30. Dezember entsetzt und sprachlos zu notieren:
Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, was man hat, muss scheiden. Unser Junge tot! Unmöglich! Und doch! Kein Bruder mehr. iv
Die Verborgene Chronik entstand in einem fünfjährigen Arbeitsprozess: von der Transkription, Sichtung und editorischen Überlegungen bis zur unabdingbaren Auswahl, notwendigen Transformation und literarischen Montage. v 2014 erschien bei Galiani Berlin die Verborgene Chronik 1914, 2017 folgte die Verborgene Chronik 1915-1918. Beide Bände enthalten über 2240 Textpassagen aus Tagebüchern von hundertzwanzig Verfasserinnen und Verfassern. Als Autoren sind Herbert Kapfer und ich genannt. Diesen auf die Montage bezogenen Anspruch möchte ich mit folgendem Werkstattbericht erläutern.
Material und Struktur
Wolfgang Hörner vom Verlag Galiani Berlin initiierte das Projekt. Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen stellte als Herausgeber insgesamt mehr als 23.000 Seiten von über zweihundert Autorinnen und Autoren zur Verfügung. Über Monate hinweg schickte Jutta Jäger-Schenk Kopien der handschriftlichen Originale, gescannte Typoskripte und digital erfasste Transkriptionen. In den Tagebüchern listeten Soldaten an der Front Ereignisse auf oder schilderten detailgenau Gewalterfahrungen, Gefangene berichteten von Beschäftigungsstrategien oder Demütigungen, Zivilistinnen und Zivilisten kommentierten Zeitungsberichte oder stellten ihre konkreten Lebensumstände dar.
Die Materialfülle ermutigte Herbert Kapfer und mich zur Ordnungsidee, die der von uns gewählte Titel Verborgene Chronik vorgibt: Für den gesamten Kriegszeitraum sollte die chronistische Struktur der einzelnen unveröffentlichten Tagebücher mit mindestens einem täglichen Eintrag widergespiegelt werden. Die inhaltliche Vielfalt ließ uns an Berichte aus vielen Perspektiven von ständig wechselnden Schauplätzen denken.
Bereits nach der Durchsicht der ersten Lieferung aus dem Archiv sahen wir uns mit in erzählerischer, formaler und sprachlicher Hinsicht höchst disparatem Material konfrontiert. Jede Vorstellung einer Auswahledition nach philologisch und inhaltlich überzeugenden Kriterien erwies sich als utopisch. Sie hätte der Gesamtheit der Tagebücher nicht gerecht werden können und wäre eine unvertretbare Zumutung für eine thematisch interessierte Leserschaft gewesen.
Literarische Montage
Für die folgende Konzeptentwicklung spielte der Erfahrungsaustausch über eigene Publikationen mit historischem Bezug zum Ersten Weltkrieg eine Rolle. Herbert Kapfers und Carl-Ludwig Reicherts Publikation Umsturz in München. Schriftsteller erzählen die Räterepublik nutzt bekannte und vergessene dokumentarische, biografische und propagandistische Publikationen von 35 Autoren jener Zeit. Kapfer und Reichert betrachten diese Texte als subjektive „Dokumente […] einer Bewußtseinsgeschichte wirklicher Personen – Autoren nämlich“. Auf Arno Schmidt Bezug nehmend – „Vielleicht, daß man der einseitigen Betrachtungsweise eines historischen Roman-Schreibers, durch die Einseitigkeit eines andern begegnen könnte“ – bezeichnen sie im Vorwort das Ergebnis der Montage als „ihren historischen Roman mit dem Titel: Umsturz in München“. vi Daraus ergab sich für die Verborgene Chronik der Ansatz, nicht konkrete historische Ereignisse oder eher abstrakte soziale Zustände, sondern individuelle Bewusstseinslagen vorführen und aus dem gewählten Material unsere eigene Erzählung montieren zu wollen.
Der von Herbert Kapfer und mir herausgegebene Band Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe konnte zwar in editorischer Hinsicht keine Vorlage sein. vii Franz Pfemfert hatte aber in seiner Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 1914 nach Kriegsausbruch eine Rubrik eröffnet, die in loser Folge unter dem Titel Ich schneide die Zeit aus propagandistische Artikel ohne Kommentar abdruckte. Sukzessive über die Dauer des Kriegs hielt er an dieser Form fest und entwickelte so eine Zitat-Serie. Pfemferts Prinzip des unkommentierten Herausstellens schien uns für die Verborgene Chronik vorbildhaft. So fanden nicht nur die menschenverachtend-rassistischen Schimpftiraden eines Oberst a. D. Eingang in die Montage. Das kommentarlose Zeigen selbst sollte das Konzept prägen – aus unserer Sicht im Sinne von Walter Benjamins konzeptuellen Ideen zum Passagen-Werk: „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ viii
Aus: Verborgene Chronik 1915-1918
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Galiani Berlin
Darüber hinaus gab es auch den Kontext kanonisierter Publikationen, die gerne mit Begriffen wie „Prosamontage“ oder „historische Collage“ umschrieben werden. Hans Magnus Enzensbergers Roman Der kurze Sommer der Anarchie (1972), Alexander Kluges Schlachtbeschreibung (1964) und Uwe Nettelbecks Der Dolomitenkrieg (1976) waren genauso Gesprächsgegenstand wie (allerdings mehr wegen der thematischen Nähe als der Montagetechnik) Walter Kempowskis Projekt Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943 (1993).
Dem einfachen Prinzip der Tageschronik folgend montierten wir in einem Dialogprozess ausgehend von den Textstellen, die wir in Einzelarbeit vorausgewählt hatten, unseren Erzählfluss. Wobei sich früh herausstellte, dass innerhalb der Tagebucheinträge radikale Striche nicht nur notwendig waren, sondern den Aussagen der meist ungeübten Schreiber Klarheit und Prägnanz verliehen. Das gedankenlose Reproduzieren von Kriegspropaganda durch junge Frauen etwa verlor die ermüdende Redundanz. Manchmal standen bei der Kompositionsarbeit mehrere Textpassagen in Konkurrenz, für andere Tage fehlte zunächst überzeugendes Material. Herbert Kapfers Erfahrungen im Umgang mit Montagetechniken, mit Schnitten löste Probleme an kniffligen Stellen. Meine intensive Kenntnis des Materials brachte bei einer zweiten Recherche manch Überraschendes zutage. Soweit einige Anmerkungen zum kompositorischen Montageprozess. Abschließend seien exemplarisch Einträge vom Montag, dem 11. November 1918, angeführt:
Ernst Eberlein, Lamécourt (Frankreich)
Früh waren wir bei den Geschützen […]. Feuerbereitschaft war angefordert, und wir schossen eine Anzahl Schüsse heraus. Es war gerade eine kleine Pause eingetreten, als der Telefonist an die Geschütze kam und meldete: „11.50 Uhr ist Waffenstillstand, es darf nicht mehr geschossen werden.“ Da wollten wir schnell noch einige Schuss los sein [...]. Fünf Minuten später war es aus. Die Nachricht hat uns, trotzdem das Ende herbeigewünscht wurde, doch noch überrascht. [...]
Reinhold Kell, Longwy (Frankreich)
[…] Die alten Zeiten sind vorüber, einen Kaiser haben wir nicht mehr bis auf Weiteres. So muss man die alten Grundsätze aufgeben. Man sieht schon junge Burschen hier, die ihre Landeskokarde rot überzogen haben: die Deutsche Republik! Wie das einem an die Nieren geht! […] Unsere Truppen begannen heute Morgen, in Ordnung hier durchzumarschieren. Außer Kindereien kommt nichts vor. [...]
Wilhelm Strauch, Gefangenenlager bei Throsk (British Empire, Schottland)
Waffenstillstand! Glocken läuten, Fahnen wehen überall, Böllerschüsse krachen, Freudenfeuer lodern von den Bergen, überall ist ein Jubel ohne Gleichen – hier im Feindesland. [….] Wir, die wir so gläubig auf den Sieg gehofft und unverzagt die Härten von fünf Kriegsjahren erduldet, sehen nun gedemütigt in eine dunkle Zukunft. [...]
Clara Bohn, Ingersheim, Elsaß-Lothringen
[…] Am Abend kamen schon Soldaten ohne Flinte aus der Stellung, sogar mit Handschellen. Viele schämen sich, wie gebissene Hunde ziehen zu müssen. Jetzt sind wir eine Republik, jetzt gibt's kein Kommando und kein Oberhaupt mehr! Man sieht es schon, jedes Kind schreit öffentlich: „Vive la France, merde la Prusse, d'Schwowa müssen zum Landla nüss!“ ix
i Lisbeth Exner und Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1915-1918, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv. Berlin 2017, S. 32
ii ebd., S 26
iii Lisbeth Exner und Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1914, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv. Berlin 2014, S. 356 f.
iv ebd., S. 361
v s. dazu ebd., S. 369-403 (Anhang) und Verborgene Chronik 1915-1918, a.a.O., S. 717-797 (Anhang)
vi Herbert Kapfer, Carl-Ludwig Reichert: Umsturz in München. Schriftsteller erzählen die Räterepublik. München 1988, S. 8 – s. auch Arno Schmidt: …denn ‚wallflower‘ heißt ‚Goldlack‘. Drei Dialoge. Zürich 1984, S. 97
vii Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe, hg. von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer. München 1999
viii Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Erster Band. Frankfurt/M. 1983, S. 574
ix Verborgene Chronik 1915-1918, a.a.O., S. 659, 662-663, 664