Poetik der Ruinen

Im belagerten Sarajevo entstehen 1992-1993 Notizen, die ihren Autor, Dževad Karahasan, über Nacht internationale literarische Bekanntheit verschaffen sollten. Der als Dnevnik selidbe 1993 zunächst in Zagreb und kurz darauf deutscher Übersetzung als Tagebuch der Aussiedlung veröffentlichete Essayband erzählt vom Alltag und der inneren Welt des Autors im ersten Kriegsjahr. Im Jahre 2021 erlebt der Band eine neue Ausgabe als Tagebuch der Übersiedlung.

Dževad Karahasan: Tagebuch der Übersiedlung. Suhrkamp 2021, Berlin.

Poetik der Ruinen

von Željana Tunić

Als im April 1992 der Krieg in Bosnien und Herzegowina begann, schien sich das Unvorstellbare zu realisieren: Europa wurde wieder zum Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Dies begründet auch die damalige Nachfrage nach authentischen Stimmen aus dem Land, die die Geschehnisse entweder dokumentieren oder den Alltag im kriegerischen Ausnahmezustand zu vermitteln versuchen. Nicht wenige Fotograf:innen und Literat:innen wurden dadurch international wahrgenommen, Dževad Karahasan war einer von ihnen.

Ein literarisches Denkmal der Stadt

Dževad Karahasan (1953-2023) vereinte in seiner Biographie und seinem Schaffen sozio-kulturelle Kontexte, die Bosnien und Herzegowina sowie die Hauptstadt Sarajevo eindrucksvoll geprägt haben: die islamische, die jüdische, die orthodoxe und die katholische Tradition – eine solche Verwobenheit dieser kulturellen Kreise in der longue durée findet sich kaum an anderen Orten Europas. Karahasan war ihr literarischer Prediger, zugleich auch ein Chronist der Negierung und versuchten Vernichtung dieser Multikulturalität während des Kriegs in Bosnien und Herzegowina (1992-1995). Sein Tagebuch der Übersiedlung ist ein essayistisches „Klagelied“ über das belagerte Sarajevo. Darin schildert er „die erste Phase der Zerstörungswut“ i in der Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas.

„Sie begann gegen einundzwanzig Uhr und dauerte bis vier Uhr morgens, und sie beschossen uns mit Raketen und den größten Artilleriegeschossen. In den ersten Monaten schossen sie meistens nachts, so dass wir den ganzen Tag lang übernächtigt und vor Schläfrigkeit wie betäubt waren. Es tagte bereits, als der Beschuss so weit nachließ, dass wir aus dem Keller herauskonnten. Weiß vor Angst, Schlaflosigkeit und einer speziellen Art von Müdigkeit, die wir bereits gut kannten und die eine durchwachte Nacht mit sich bringt, versicherten wir einander, wir fühlten uns ‚ganz gut, nur ein wenig müde‘.“ ii

Nach einem Jahr der alltäglichen Lebensgefahr wird es Dževad Karahasan möglich, mit seiner Frau aus Sarajevo zu fliehen. Die während dieses Ausnahmezustands notierten Gedanken und Gefühle des inzwischen Geflüchteten erscheinen unter dem Titel „Tagebuch der Aussiedlung“ und werden als Chronik der Zerstörung Sarajevos aber auch des geistigen Widerstandes seines Autors gelesen. Die Hauptfigur des Essaybandes ist die Stadt selbst, die der sich im Exil befindende Autor in den Notizen beweint und zu bewahren versucht. Vom Inhalt her erinnert der Band an die altorientalischen Stadtklagen beziehungsweise die alttestamentarischen Klagelieder. iii Der Autor trauert um die zerstörte Stadt, wendet sich oft verzweifelt an Gott, dessen Willen er nicht verstehen kann. Er zieht dabei Parallelen zwischen Jerusalem und Sarajevo, wenn er beispielsweise über die Stadt als Referenzpunkt für drei monotheistische religiöse Gemeinschaften spricht, was Sarajevo den Namen „Jerusalem Europas“ verschaffte. Dabei korrespondiert die Flucht der jüdischen Gemeinde aus dem belagerten Sarajevo 1992 mit dem 500-jährigen Jubiläum ihrer Ansiedlung in Bosnien und Herzegowina nach der Flucht aus Spanien, und Karahasan fragt sich, warum so ein bitterer Zufall nötig sei. Seine Stadt gebe es ab diesem Moment nicht mehr, weil eine Gemeinde, die jüdische, die Sarajevo für so lange Zeit maßgeblich geprägt habe, in dieser Stadt nicht mehr lebe. So überlappen sich die Exilerfahrungen der Jüd:innen zu unterschiedlichen Zeiten und die Flucht anderer Bewohner:innen Sarajevos und verstetigen das angesprochene Bild der Stadt als europäisches Jerusalem. Es gebe jetzt auch zwei Sarajevos, so wie Karahasans Freund Albert Goldstein von zwei Jerusalems spreche: ein geographisch lokalisierbares und ein ideelles. Diese ideelle Stadt ist ein in der Erinnerung festgehaltener und durch das transgenerationelle Gedenken immer wieder belebter Ort, der auf diese Weise der Zerstörung und der real-historischen Gegebenheiten trotze und zugleich als ein Referenzpunkt für die Ausgesiedelten diene. So projiziert Karahasan sein Sarajevo in die ferne Zukunft, um sie – sowie sich selbst – von der aktuell von ihm erlebten Zerstörung zu retten. Der neue Titel des Bandes macht diese Übersiedlung Sarajevos von einem realem zu einem ideellen, fast transzendentalen Ort zum zentralen Thema.

Epiphanien der Zerstörung

Obwohl der Titel auf den diaristischen Charakter hindeutet, handelt es sich um keine typischen Tagebucheinträge, vielmehr um essayistische Reflexion einiger Szenen, die der Autor als Epiphanien der Zerstörung beschreibt. iv Solche Epiphanien seien nicht die Offenbarung des Göttlichen – wie im üblichen Sinne des Wortes Epiphanie –, sondern Erscheinungsformen des Kriegerischen, Zerstörerischen. Der Autor schildert die Ereignisse, in denen sich das Prinzip des Daseins im belagerten Sarajevo als eine verkehrte Welt offenbart. So beschreibt Karahasan die Begegnung mit einer Nachbarin, die verzweifelt weint, weil ihre Kinder bei ihr, in Sarajevo, seien, und beneidet eine andere, deren verletztes Kind mithilfe von UNPROFOR aus der Stadt evakuiert wurde. Was ist das für eine Welt, in welcher einer Mutter lieber ist, dass ihr Kind verwundet ist, als dass es bei ihr ist, fragt sich der Autor. Die Zahl der während der fast vierjährigen Belagerung Sarajevos ermordeten Kinder, die wir inzwischen kennen, und der Autor und die Mutter in der Realität des Jahres 1992 erst nur ahnen kann, bietet eine erschütternde Antwort und der Wunsch der Mutter lässt sich aus einer später Perspektive leicht nachvollziehen. Allein durch die Beschreibung eines kurzen Gesprächs mit einer Mutter aus der Nachbarschaft vermittelt der Autor das Bangen um das Leben der Nächsten und die reale Todesgefahr während der Belagerung Sarajevos.

Karahasans Augenmerk gilt nicht der offensichtlichen Zerstörung – als ihre Vermittler:innen waren schon zahlreiche Journalist:innen und Fotograf:innen in Sarajevo unterwegs –, ihm geht es nicht um das Dokumentieren der großen Ereignisse. Der Autor lenkt unseren Blick auf weniger auffälligen Details, in denen sich die Folgen der Gewalt, der Angst und des Mangels zeigen. So widmet er beispielsweise einen Essay den Händen einer Schauspielerin, welche „schwer mitgenommen durch das Sammeln von Heizmaterial, das Abbrechen der Äste von den Bäumen und durch den Kohlenstaub im Keller [waren]. Sie waren geschwollen von der Kälte, vom Wäschewaschen, vom unregelmäßigen Waschen der Hände (es gab kein Wasser), vom Teig, den sie kneteten, um Brot zu backen.“ Die Diskrepanz entsteht, wenn der andere Schauspieler sie bei der Theateraufführung als die gepflegte Hand einer noblen Dame am Anfang einer Liebesaffäre küssen soll und dies nicht schafft:

„Die junge Schauspielerin hielt ihm ihre Hand kokett zum „Handkuss“ hin, doch der Schauspieler, ihr Partner, der sie küssen sollte, starrte auf die aufgesprungene Haut und die rissigen Fingernägel, auf die von der Kälte geschwollenen Gelenke, auf die Narben und die kaum sichtbaren Hautverletzungen. […] Diesen Augenblick lang, der für ihn wahrscheinlich eine Ewigkeit darstellte, stand der Schauspieler wie versteinert auf der Bühne und fragte sich, so nehme ich an, wie diese misshandelte Hand, die längst jeder Art von Pflege entwöhnt war, aus einer Haltung oberflächlichen Hofierens und gemimter Leidenschaft heraus zu küssen sei. Und dann küsste er sie mit viel echter Emotion, vielleicht auch Leidenschaft. Einen langen, für diese und eine solche Aufführung zu langen Augenblick drückte er seine Lippen auf die raue Haut ihrer Hand, als wollte er sie nie mehr lösen, und in diesen Kuss legte er so viel wahrhaftes Gefühl, dass die Szene eine Intensität und Energie gewann, die sie im Kontext dieser Aufführung auf keinen Fall hätte haben dürfen.“ v

Dem Autor gelingt es wiederum, durch eine Kleinigkeit „die großen Themen“ aus dem Alltag in der belagerten Stadt anzusprechen: Einerseits die mangelnde Grundversorgung, der die Bewohner:innen Sarajevos fast vier Jahre ausgesetzt waren, andererseits das Aufrechterhalten des kulturellen Lebens mit Theateraufführungen als Überlebensstrategie und geistiger Widerstand. Sein Schreiben bezeichnet Karahasan als „die Poetik der Ruine“, die eine „abwesende Wirklichkeit erahnen“vi lasse. Die Ruine – eines Hauses, einer Hand, einer Ordnung - verweise auf ihre ehemalige Vollständigkeit und deren Verlust, eingebettet in einer bestimmten Zeit ihrer Entstehung und ihrer Zerstörung. Sein Sarajevo, selbst in einer ruinierten Form, widerspiegele die ehemalige Stadt, welche wiederum die ganze Welt widerspiegele. Das Verhältnis zwischen dem Mikro- und Makrokosmos, bei dem im Kleinen die Strukturen des Großen völlig enthalten sind, kennzeichne auch das Verhältnis zwischen Sarajevo und der Welt:

„Sie [die Stadt Sarajevo] wurde zu einem Mikrokosmos, zum Zentrum der Welt, zu ihrem Mittelpunkt, der wie jeder Mittelpunkt nach der Lehre der Esoteriker die ganze Welt in sich trägt. Daher ist Sarajevo zweifellos eine innere Stadt in der Bedeutung, welche die Esoteriker diesem Wort zuschreiben: Alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo, verkleinert, reduziert auf seinen Kern, aber es existiert […].“ vii

Ein solches „Porträt der inneren Stadt“ viii bedeutet aber auch, dass die Zerstörung Sarajevos auf eine mögliche Zerstörung in der Welt und der Welt selbst hindeutet.

Gewaltsame Teilung des Zusammengewachsenen

Der Verlust des früheren Alltags, spitzt die Wahrnehmung zu. So geht die verkehrte Perspektivierung in dem Essayband oft sowohl mit der Verfremdung als auch mit unerwarteter Annäherung an gewöhnliche Objekte einer, die als das Ergebnis einer radikalen Existenzerfahrung zum Ausdruck kommen. So beschreibt Karahasan die Bombardierung, die sein Haus stark beschädigt hat, als den Moment, in dem er die Schönheit seines Hauses erst wahrnimmt.

„Damals schaute ich mir mein Haus, nachdem ich etwa zehn Jahre darin gewohnt hatte, zum ersten Mal genau an. […] Damals sah ich zum ersten Mal, dass mein Haus wirklich schön ist, und ich spürte, dass ich es liebe. […] das bedeutet, dass ich mich von ihm verabschiede, das bedeutet, dass es zu meiner Erinnerung wird, weil wir den vollen Wert von allem, dem wir begegnen, erst dann erhalten, wenn das, dem wir begegnet sind, aus dieser Welt ins Gedächtnis übersiedelt. Warum, mein Gott, sehen wir viel besser in der Erinnerung als in der Wirklichkeit? Warum empfinden wir mit dem Gedächtnis klarer als mit den Sinnen? Warum habe ich mein Haus gesehen und liebgewonnen, als es anfing, zerstört zu werden?“ ix

Das Haus versinnbildlicht das multiethnische Zusammenleben Sarajevos, dessen Zerstörung Karahasan als den größten Kriegsverlust beklagt. Dabei ist die Multikulturalität nicht ein Nebeneinander, sondern eine zusammengewachsene, im Intimsten gelebte Gemeinsamkeit. Im Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten erläutert der Autor, dass in ihrem Haus von zehn Ehepaaren lediglich ein Paar derselben Nationalität angehöre, dass er selbst das erst jetzt bemerke und dass eine Teilung nach ethnischen Prinzipien unmöglich sei. Dies ergänzt er mit für seinen Stil charakteristischen Humor: „Wenn Sarajevo geteilt würde, könnte ich nicht baden, weil die Badewanne in der serbischen Provinz meiner Frau bliebe, aber dafür könnte sich meine Frau nicht einfach waschen, weil das Waschbecken in meiner Provinz bliebe.“ x Die Idee der ethnischen Teilung sei nur mit Gewalt aufzuzwingen. Tatsächlich war der weitere Verlauf des Krieges in Bosnien und Herzegowina durch „ethnische Säuberungen“ und Zerstörung der sichtbaren Spuren unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gemeinschaften gekennzeichnet. Dieser nationalistischen Obsession der „Reinheit“ setzt Karahasan sein „Tagebuch der Umsiedlung“ entgegen.


i Dževad Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, Suhrkamp 2021, 32.
ii Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 32.
iii Vgl. Nancy C. Lee, The Singers of Lamentations: Cities Under Siege, from Ur to Jerusalem to Sarajevo (Biblical Interpretation Series), Brill 2002.
iv Vgl. Lesung und Gespräch mit Dževad Karahasan zu seinem „Tagebuch der Übersiedlung“, Südosteuropa-Gesellschaft: https://www.youtube.com/watch?v=gsGGz9v8MKE (letzter Zugriff am 12. Juli 2023).
v Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 94.
vi Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 85.
vii Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 10.
viii Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 10.
ix Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 33.
x Karahasan, Tagebuch der Übersiedlung, 54.