Ansichtssachen

Vampirromane berichten ihre Geschichten auffällig oft im Spektrum chronistischer Schreibweisen. Sei es das Tagebuch eines Vampirs, die Chronik der Vampire, So finster die Nacht, I am Legend oder Dracula: Datierungen von Zeit und Raum scheinen gerade angebracht zu sein für Darstellungen von Wesen, die eigentlich außerhalb dieser Dimensionen ihr Unwesen treiben. Dabei machen sich Autor:innen eine Strategie zu Nutze, die mit dem Deutungspotential des historischen Materials zu tun hat.

Bram Stoker: Dracula. Reclam 2022, Stuttgart.

Ansichtssachen

von Leon Bertz

Bram Stokers Dracula ist ein seltsames Buch. Anhand unterschiedlichster Zeugnisse und in garantiert „treustmöglicher Wiedergabe“i dokumentiert es die schauerlich-sentimentalen Ereignisse eines halben Jahres zwischen dem 3. Mai und 6. November irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Bekanntermaßen avancierte das Konvolut von 1897 zu einem der bekanntesten Texte der Moderne. Neben seiner Rolle als quasi enzyklopädische Inspirationsquelle für das blutsaugende Paranormale ist Stokers fiktiver Roman auch ein bemerkenswertes Exemplar selbstreflexiver Chronistik.

Verzeichnis sonderbarer Ereignisse

Sechs Monate und drei Tage lang halten Diarien, Notizen, Telegramme, Briefe und Zeitungsausschnitte die Leser:innen auf dem Laufenden über unheimliche Begebenheiten von den Karpaten bis nach London. Erzählt wird das Leben und Sterben des Grafen Dracula von einer Figurenriege, die im Verlauf der Geschehnisse ihres Opferdaseins überdrüssig wird, um dem nicht gerade zufälligerweise osteuropäischem ‚Eindringling‘ das Handwerk zu legen. Medienästhetisch aufsehenerregend kommen bei der Aufzeichnung dieser polyphonen Heldenreise zeitgenössisch neue und neueste Techniken zum Einsatz. Dr. Seward beispielsweise archiviert seine Erlebnisse per Phonograph ohne überhaupt zu wissen wie das Gerät richtig bedient wird.ii Ein Glück ist es deshalb, dass die Geschichte über eine ihr eigene Stenotypistin verfügt, die in der Gestalt von Mina Harker dem „Erfinder der Reiseschreibmaschine“ „unendlich dankbar“ ist, weil sie dieser praktischen Erfindung wegen ihr „Protokoll auf den aktuellen Stand“ bringen kann, „was mit Feder und Tinte“ doch recht aussichtslos gewesen wäre.iii Für Dr. Seward und seine Gefährten pflegt Sie fortan das Register der unglaublichen Begebenheiten:

Mina Harkers Tagebuch
29. September. [...]
In dieser Angelegenheit sind Daten das A und O; ich denke, wenn wir unser Material komplett zusammengetragen und die Unterlagen in chronologische Ordnung gebracht haben, ist ein großer Schritt vorwärts getan.iv

Dankbar sein sollten allerdings auch die Leser:innen, denn Harkers in chiffrierender Kurzschrift vor Vampiraugen verschlüsseltes Protokoll ist auch jenes Datenbündel, das den Titel Dracula trägt. Außer Mehrstimmigkeit, Technikreflektion und Vampir-Horror berichtet der Text spiegelgleich die Geschichte der eigenen Entstehung und gerät so nicht zuletzt zu einer Chronik seiner selbst. Das Vorwort versichert daher auch:

Wie diese Blätter entstanden und warum sie gerade so angeordnet sind, ergibt sich aus der Lektüre. […] Es handelt sich durchweg nicht um ein Erinnern an weit zurückliegende Dinge, das sich ja sehr leicht irrt. Alle Personen, die hier zu Wort kommen, haben ihre Aufzeichnungen unter dem noch frischen Eindruck der Ereignisse gefertigt – aus ihrer damaligen Sichtweise und ihrem damaligen Wissensstand heraus.v

So nüchtern, so typisch die klischierte Authentifizierungsgeste des Horrorgenres. Gelesen aber als Einleitung einer im Folgenden genaustens datierten Vampir-Chronik vermittelt die Passage theoretisierbare Eigenschaften des chronistischen Schreibens: Weniger Erinnerung einer bestimmten Geschichte ist die mitschreibende Chronik mehr Dokumentation im Moment des Geschehens und damit eine Quelle verschiedener Lesarten einer fragmentreichen Wirklichkeit. Das kennzeichnet zwar die erkenntnistheoretische Provinzialität der Form, sichert jedoch ihre konstitutive Offenheit. Ein Merkmal, das für Stokers Mannschaft auf Vampirjagd buchstäblich überlebenswichtig wird.

Das Unglaubliche deuten

Im späteren Verlauf der Geschichte bemerken die Freunde unheimliche Überschneidungen ihrer respektiven Erlebnisse. Es fällt der Entschluss, mithilfe von Mina Harker die bisherigen Aufzeichnungen zu sammeln und als Lektüre für alle zur Verfügung zu stellen:

Dr. Sewards Diarium
30. September. […] Nach dem Essen zogen sich Mr und Mrs Harker in ihr Zimmer zurück. Als ich eben dort vorbeiging, hörte ich das Klappern der Schreibmaschine. Die beiden sind emsig bei der Arbeit. Laut Mrs Harker wollen sie alle Belege, selbst die kleinsten Fetzen Papier, zusammentragen und in chronologische Ordnung bringen. […] Ich bin gespannt, ob es ihnen weiterhilft.vi

Aber nicht nur was bisher geschah soll kumuliert werden. Vampir-Professor van Helsing besteht darauf, dass „jetzt alles säuberlich dokumentiert [ist], vom Beginn bis zu diesem Augenblick“, denn „[w]ir haben doch erlebt, dass selbst die geringsten Details Aufschluss geben können“ und auch Mina sieht nach dieser Rede ein, „dass gerade die jetzige Situation uns zwingt, alles zu notieren, auch noch das scheinbar Unbedeutendste“vii. Ad infinitum bewegt sich dieser Text, weil seine Interpret:innen in Konfrontation mit dem Übernatürlichen noch nicht wissen, welches Ereignis einmal bedeutsam sein wird. Sie können nicht selektieren, weil im Lichte späterer Informationen das Vergangene ganz anders aussehen mag.
Van Helsing macht sich hier unbewusst eine Erkenntnis der Metahistory zur Überlebenstaktik: Weil die erzählende Historie immer schon das Erklären des Geschehens mitproduziert, indem sie eine vereindeutigende Auswahl dessen trifft, was der Beobachterin für die Identität einer Geschichte relevant zu sein scheint, muss sie „das scheinbar Unbedeutendste“ zwangsläufig ausklammern. Was aber, wenn in gerade diesem Unbedeutenden die Möglichkeit einer alternativen Geschichte verborgen liegt? Eine Geschichte, die niemand auch nur erwogen hätte „inmitten unseres wissenschaftlichen, skeptischen, faktenverliebten 19. Jahrhunderts“viii, deren „Wirklichkeit“ aber „unsere Dokumente, zieht man die richtigen Schlüsse, eindrucksvoll beweisen“ix.

Die richtigen Schlüsse zu ziehen oder auch „alles ohne Vorbehalt“x zu lesen bedeutet in dieser Fiktion so viel wie das Daten-Konvolut auf die Möglichkeit eines Vampirs hin zu interpretieren. Mit der Offenheit der Chronik gewinnen die Figuren die Bedingung dafür, „dass jedes Detail aussagekräftig wird“xi damit durch das Material diejenige Geschichte durchschimmert, die schließlich Dracula heißt und Metapher sein könnte für die unerwarteten Stories im Schutt der Historie. Ein Leseabenteuer gewissermaßen, das das Publikum mit seinen Held:innen teilen darf und vielleicht auch den überbordenden Umfang dieses nicht selten wirklich langatmigen Romans zu funktionalisieren vermag. Stellvertretend für die prosumierenden Leser:innen macht sich Mrs Harker an die Evaluation der Archivalien:

Mina Harkers Memorandum
(Eingetragen in ihr Tagebuch) [...]
Ich habe mir von Dr. van Helsing alle Aufzeichnungen geben lassen, die ich bisher noch nicht einsehen konnte…Während die Männer sich ausruhen, werde ich sämtliche Unterlagen einmal sorgfältig durchgehen; vielleicht gelange ich dann doch zu einer Erkenntnis. Ich werde dem Beispiel des Professors folgen und die vorliegenden Tatsachen ganz unvoreingenommen sichten…
Ich glaube, ich habe – mit Gottes Hilfe – tatsächlich etwas herausgefunden.xii

Aus der Chronik des Vergangenen eine Geschichte zu machen, heißt schließlich allerdings nicht bloß, das, was war, zu deuten, sondern auch das, was daraus sein wird, zu antizipieren. Mit der Verlängerung der bisherigen Trajektorie des Grafen hofft Mina, seine zukünftigen Handlungen zu erkennen: „Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal exakt, was er bisher getan hat; vielleicht ersehen wir ja daraus, was er weiter unternehmen will“xiii. Zu sehen bekommen die Lesenden das Resultat dieser Untersuchung als „Mina Harkers Memorandum“. Der Eintrag ist auffällig analytisch und entlockt dem chronistischen Rohstoff beinah im Stile von A.J. Greimas Aktantenmodell eine narrative Grammatik, die tatsächlich fungieren wird als praktisches Vorhersagemodell.xiv Enthusiastisch empfängt deshalb van Helsing seine „Lehrmeisterin“, denn ihre „Augen haben gesehen, wo wir blind waren. Jetzt sind wir wieder auf der Fährte“xv. Aber Achtung: Diese Fährte kann durchaus täuschen. Warum die Vielzahl der virtuellen Deutungsmöglichkeiten des chronistischen Archivs gerade in jener Interpretation münden sollte, bleibt bis zuletzt ein Moment grauenvoller Unsicherheit.

Wie es eigentlich gewesen ist … oder?

Im letzten, einzig undatierten Eintrag des Buches macht Jonathan Harker etwa sieben Jahre nach den Ereignissen eine unangenehme Entdeckung:

Schlussnotiz [...]
In der ganzen Masse von Materialien, aus denen sich das Konvolut zusammensetzt, findet sich kaum ein einziges authentisches Dokument; nur lauter Maschinengetipptes, nichts Handgeschriebenes, außer den letzten Notizen von Mina, Seward und mir sowie van Helsings Memorandum. Wir können wohl kaum erwarten, so lieb es uns auch wäre, dass irgendjemand diesen Akt als gültiges Beweisstück für eine so abenteuerliche Geschichte akzeptiert.xvi

Waren die Freunde am Ende Opfer eines kollektiven Wahns, gebannt durch einen vampirischen Fluch, der sie die Ereignisse lesen ließ als draculaeske Horrorgeschichte? Dafür, dass das Ganze nicht bloß eingebildet war, bürgt vielleicht ein erkenntnistheoretisches Schlussverfahren, das Charles S. Peirce Abduktion nennt:

The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course, Hence, there is reason to suspect that A is true.xvii

Der unerklärliche Sachverhalt wird reduzierbar vermöge einer bisher unbekannten Regel, die das Beobachtete zum Ergebnis ihrer Anwendung macht. Oder konkreter im vorliegenden Fall: Die beobachteten Unglaublichkeiten werden zu verständlichen Beweisstücken, wenn es den Vampir wirklich gegeben hat. Bezogen auf die Interpretation von Geschichte schreibt Arthur C. Danto in diesem Sinne, dass wir irgendwelchen Zeugnissen nur „wirklichen Sinn geben“, wenn wir „eine Erzählung dazu finden, der jene als Belege dienen können“xviii. Zuerst gibt es die Chronik und dann das, was sich buchstäblich daraus machen lässt.
Der konstruktivistische Charakter dieses Vorgangs verweist auf eine „abenteuerliche“ Analogie: Dass Horrorfiktion und Geschichtsschreibung epistemologisch näher beieinander liegen als es lieb wäre, denn vielleicht ist das Interpretieren des Vergangenen mit seinem „unausrottbaren subjektiven Faktor“xix immer auch eine Gratwanderung mit dem Wahnsinn.



i Bram Stoker: Dracula. Stuttgart 2022, S. 7.
ii Vgl. Dracula, S. 334.
iii Dracula, S. 524.
iv Dracula, S. 339.
v Dracula, S. 7.
vi Dracula, S. 341.
vii Dracula, S. 356.
viii Dracula, S. 361.
ix Dracula, S. 363.
x Dracula, S. 331.
xi Dracula, S. 375.
xii Dracula, S. 525.
xiii Dracula, S. 526.
xivVgl. Algirdas Julien Greimas: Actants, Actors and Figures. In: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Minneapolis 1987, S. 106-120.
xv Dracula, S. 529.
xvi Dracula, S. 568.
xvii Charles Sanders Peirce: The Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Cambridge 1994, 5.189.
xviii Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 1980, S. 200.
xix Ebd. S. 231.